Wissmann's Apotheke: Das Aus nach 127 Jahren!
Gentrifizierung: Inhabergeführte Geschäfte müssen in vielen Kiezen aufgeben

Nicht immer hat es mit einem Hausverkauf zu tun, wenn Apotheker ihr Geschäft aufgeben. Oft fehlt es auch an Nachfolgern, wie bei der Tucholsky-Apotheke in der Perleberger Straße 39, als die beiden Inhaber vor etwa drei Jahren in den Ruhestand gingen. Auch die 67jährige Apothekerin Carola Minarek bezieht schon Rente, doch an eine Geschäftsaufgabe dachte sie noch längst nicht, bis die Kündigung auf dem Tisch lag.
Ein italienischer Investmentfonds hat das Eckhaus Paulstraße 23 / Flemingstraße 9 gekauft. Heute war die Wissmann's Apotheke den letzten Tag geöffnet. Sie existierte hier seit dem Bau des Hauses 1890.
Erst kürzlich hatte der Tagesspiegel mit einer einfühlsamen Reportage den letzten Tag von Sabine Göhr-Rosenthal, einer Apothekerin in dritter Generation in der Neuköllner Karl-Marx-Straße, beschrieben. Dort war es die zweieinhalbfache Mieterhöhung, in Moabit ist es die Kündigung. "Nach monatelanger Verhandlung wurde mir ein Jahr Vertragsverlängerung angeboten", sagt Carola Minarek, "aber ein ganzes Jahr langsam Sterben, das wollte ich doch lieber nicht." Eigentlich hatte sie geplant ihre Apotheke zu verkaufen, wie sie selbst den Laden 1981 gekauft hatte. Doch das sei mit einem Einjahresmietvertrag so gut wie unmöglich.

Die jährliche Adventsfeier für ihre Kunden hat sie fünf Tage vor Weihnachten als Abschiedsfest zelebriert. Jung und Alt verzehrten gemeinsam Plätzchen, tranken Glühwein und lauschten der Musik von Balalaika und Akkordeon. Die Kunden unterhielten sich über die stetige Veränderung ihrer Wohngegend: "Unser Kiez geht vollkommen kaputt." - "Nichts mehr gibt es hier, rein gar nichts."
"Früher hatten wir einen Edeka-Laden, eine Schlecker-Drogerie, einen guten Bäcker, einen tollen Blumenladen - das ist alles weg." - "Ich weiß gar nicht, wo ich meine Medikamente holen soll, wenn hier zu ist. Auch die Apotheke in der Rathenower Straße ist schon länger geschlossen." - "Die Wohnungsmieten steigen hier extrem. Neue Mieter bei mir im Haus zahlen schon viel mehr als das Doppelte."
Zum 100jährigen Bestehen der Apotheke im Jahr 1991 hatte Carola Minarek eine Chronik mit alten Fotos und Werbeanzeigen herausgegeben - es war ihr 10jähriges Jubiläum. In diesem Text von Friedhelm Reinhard heißt es, dass der Apotheker Hermann Wissmann seine Apotheke am 21. Februar 1891 eröffnete, nachdem er im September 1890 die Konzession erhalten hatte. Es war die sechste Apotheke im Stadtteil Moabit. 1911 kaufte sie der Apotheker Otto Bachmann, einige Jahre später auch das Haus. Sein Nachfolger wurde im September 1928 der Apotheker Alfred Rosenthal. 1936 wurde er als Jude gezwungen die Apotheke zu verpachten. Um eine Genehmigung zur Einwanderung nach Palästina zu erhalten, verkaufte Rosenthal Haus und Apotheke wieder an den Vorbesitzer Bachmann - sehr wahrscheinlich mit großem Verlust - und verzichtete 1937 auf die Konzession.
Wie die Initiative "Sie waren Nachbarn" e.V. vor einigen Jahren durch den Schriftwechsel mit Rosenthals jüngster Tochter, Eva Riese, damals 93 Jahre alt, erfuhr, wurden ihre Eltern nach Theresienstadt deportiert und im Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. 1936 hatten sie die 16jährige Tochter nach Palästina geschickt, wo sie weiter die Schule besuchte und noch bis 1939 finanzielle Unterstützung aus Berlin erhielt. Ihre Schwester wurde schon 1933 nach dem Abitur zum Studium nach England geschickt.
Wie ging es weiter mit Wissmann's Apotheke? Bachmann verpachtete sie kurzzeitig, nachdem aber der Pächter wenige Wochen nach Beginn des 2. Weltkriegs während der Verdunkelung von einem Auto überfahren wurde und starb, führte er die Apotheke weiter. Von 1950 bis 1954 war sie dem Treuhänder der Britischen Militärregierung unterstellt bis zum Abschluss des Wiedergutmachtungsverfahrens, das mit einem Vergleich endete. Im Alter von 81 Jahren übergab Bachmann 1964 die Apotheke an Johannes Stenzel, der sie 17 Jahre lang führte, bis 1981 Carola Minarek, die heutige Inhaberin, sie übernahm.

Und jetzt ist nach 36 Jahren endgültig Schluss. Trotzdem kann Carola Minarek noch scherzen: "Ich bin ein Gentrifizierungsopfer, nein Spaß." Sie räumt aus, zerreißt Papiere: "Die Einbruch- und Diebstahlversicherung kann jetzt auch weg." Noch nicht geklärt ist, was zum Beispiel mit der original erhaltenen, mehr als 100 Jahre alten, Einrichtung passiert.
Es sei nie einfach an dieser Ecke gewesen. Zwar ist im Haus eine Arztpraxis, aber Laufkundschaft gibt es kaum. "Da muss man sich eine Nische schaffen, ich wollte immer lieferfähig sein", sagt sie und hat deshalb viel Geld in ein großes Warenlager investiert. Bei der Lagerhaltung könne man viele Fehler machen, doch sie hat das gemeistert: "Oft kamen Kunden vorbei, die zuvor schon in vier oder fünf Apotheken waren, wo das Medikament hätte bestellt werden müssen. Ich wurde dafür bekannt, dass ich vieles am Lager habe."
Nicht jeder sei für die Selbstständigkeit geeignet, so eine 60 Stunden-Woche schlaucht, dazu kommen die Notdienste an Wochenenden und Feiertagen. Die Apotheke war Carola Minareks Lebenswerk. Bis kurz vor der Geburt ihrer Tochter stand sie hinter dem Ladentisch und wenige Wochen danach schon wieder. Dennoch blickt sie ohne Bitterkeit zurück: "Ich bin sehr froh, dass alle meine Angestellten eine neue Arbeit gefunden haben." Kritik richtet sich an die Politik: Stoppt den Ausverkauf Berlins! Stoppt die Zerstörung der kleinen Kieze!