Wie ein Wappentier zur beschämenden Zirkusattraktion wird....

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Geschrieben nach der Veranstaltung am 14. September 2009 zur Zwischenpräsentation der Entwürfe im Gutachterverfahren Mittelbereich Lehrter Straße im Saal der Berliner Stadtmission:

Wer sich hinter einer Mauer versteckt, sollte sich nicht wundern, das sie in Trümmern liegt, wenn der Eroberer Richtfest feiert.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es im Berliner Zoo einen Bären namens Knut. Schnell wurde er von den Berlinern zum Liebling gekürt. Die Fellfarbe passte nicht ganz zum Wappentier, aber Berliner sind tolerant. Nicht ohne Grund sind sie stolz darauf, und die politische Landschaft spiegelt diese Toleranz zur Zeit noch wider. Dank dieser offenen Toleranz konnten Politiker Rückgrat zeigen, zu ihren Meinungen und Gefühlen offen stehen. Frei, aufrecht, wehrhaft und stolz steht ein Bär im Wappen der Stadt. Das war nicht immer so. Lange hatte der Bär im

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Wappen ein Halsband oder einen aufsitzenden Adler im Rücken, als Symbol der Unterordnung gegenüber Brandenburg.

Die Frage ist nur, sind sich die Berliner dieser Freiheit bewusst und bereit dafür gerade zu stehen oder möchten sie doch lieber was Anderes sein?

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Halten wir eine Sekunde inne und stellen uns Knut als Zirkusbären vor. Er bekommt ein gebügeltes Hemd mit einem Sponsorenschriftzug übergestreift, ein paar moderne, zukunftsträchtige Rollschuhe verpasst und einen Ring mit Leine durch die Nase gezogen. Im Gegenzug würde sich der nette und für uns nur das Beste wollende Investor verpflichten 1/3 der Einnahmen der Stadt zur Verfügung zu stellen. Was würde wohl passieren?

Aber genau diesen Knut gibt es schon.

Geführt und verführt an der langen unsichtbaren Leine der Investoren, trottet er wie in Trance zahn- und kraftlos in Richtung des verführerisch duftenden, glänzenden Fortschritts, unfähig sich vom verhängnisvollen Duft zu lösen, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Sich seiner Stärke, Wehrhaftigkeit, Schönheit, Einzigartigkeit nicht mehr bewußt.

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Weitreichende Entscheidungen werden dem kurzen Honiggenuß geopfert und freiwillig ordnet er sich dem Taktstöckchen seiner Investoren unter. Ein einziger Prankenhieb (oder Schlag mit der Faust auf den Tisch), vielleicht sogar ein einfaches Durchdrücken und Aufrichten des breiten Rückens könnte aus einem lächerlichen Tanzbär wieder einen stolzen, respektablen und würdevollen Gesellen machen ... allein der Wille scheint gebrochen.

Wie erklärt es sich sonst, dass am Abend des 14. September 2009 bei der Vorstellung der 3 Planungskonzepte für den Mittelbereich der Lehrter Straße alle 3 Architekturbüros über die besondere Schönheit, Einzigartigkeit und besondere Lage ins Schwärmen kamen. Jedes dieser Büros im Grunde genommen verzweifelt auf die nur schrittweisen Veränderungen hingewiesen hat, teilweise hoffnungsvoll von bis zu 35 oder gar 80 Jahren Entwicklungszeit gesprochen hat.

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Die Planung zur Umsetzung ihrer eigenen, zerstörerischen und unwürdigen Pläne mit der sich daraus ergebenen Vernichtung der kleinen Betriebe, Kleingärten und der dominierenden Mauern immer verschämt und um Verzeihung bittend ans Ende ihrer Vorträge gequetscht hat.

Kein wirklicher Stolz für das eigene Konzept vermittelbar werden konnte – wie auch?

Nur ein Konzept hatte den Mut die Vorgaben neu zu interpretieren, ein wenig die Vorgaben zu sprengen. Doch auch dieser Entwurf beugte sich der unvorstellbaren, grundlos akzeptierten und nur vom Investor vorgegebenen Bebauungsdichte.

Traurige Konsequenz - eine fast völlige Aufhebung der Sichtachse im Nordosten und Südwesten, durch einen kaum unterbrochenen, weit in den Himmel ragenden und das Panoramabild der Stadt zukünftig beherrschenden Hochhauswandzug. Die anderen Ideen und Vorschläge konnten ebenfalls nur an den maßlosen und gierigen Wünschen des Investors und seiner Lakaien scheitern. Führt doch jeder der Vorschläge zu einer völligen Vernichtung und Ausrottung des jetzt so liebenswerten, gewachsenen und lebendigen Lebensraums.

Allen Anwesenden wurde vor Augen geführt, dass eine Rettung durch noch so ausgeklügelte Bebauungspläne nicht realisierbar ist, wenn die angestrebte Flächennutzung nicht drastisch freiwillig oder durch die Verantwortlichen der Stadt eingeschränkt wird.

Oder haben sie mal versucht, den Haushalt einer fünfköpfigen Familie in einer Einzimmerwohnung gemütlich und lebenswert unterzubringen, ohne dass „Mord und Totschlag“ vorprogrammiert sind?

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Und was sagen die Vertreter der Stadt und deren Beauftragter,  Herr G. und Herr T., auf die Frage der Bebauungsdichte? Sie halten sich vornehm zurück und überlassen das Wort dem Vivico Vertreter, der sich wie immer schwammig, nichts sagend aus der Affäre zieht und alle (noch) von der Stadt akzeptierten Bebauungsoptionen voll ausschöpfen möchte, sein Gewissen rein gewaschen durch die Akzeptanz seiner Aktionäre.

Widersprüche, ein kurzes Innehalten, Verärgerung..., nichts davon ist bei den Stadtvertretern zu spüren.

Freundlich wird genickt und auf eine 20 jährige Planungszeit verwiesen, nur noch gekrönt durch ein, die eigene Gedankenlosigkeit oder Rücksichtslosigkeit entlarvende Bemerkung: „Wo gehobelt wird, fallen Späne“.

Nicht ohne Grund wurde der Hobel als Symbol eines stolzen und verantwortlichen Handwerks fast immer mit Zirkel und Winkel kombiniert, wusste man doch um die Gefährlichkeit des maßlosen Einsatzes dieses wertvollen und zum Wohl der Menschen entwickelten Werkzeugs.

Auch wenn man in diesem Falle nicht von vorauseilendem Gehorsam sprechen kann, so fällt doch eine tiefe Unterwürfigkeit, lähmende Mutlosigkeit und peinliche Passivität der städtischen Vertreter auf.

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Wir reden hier nicht von den Vertretern eines Kuhdorfes in Bayern, sondern von Vertretern einer Bundes- und Landeshauptstadt eines der führenden europäischen Staaten. Mit einem der gefährlichsten Tiere in seinem Wappen – aufrecht, frei und stolz. Das Schauspiel, was abgeliefert wird, gleicht aber eher einer drittklassigen Zirkusnummer und der Berliner „Bär“ macht nicht wirklich eine gute Figur darin.

Wir besuchen alle gerne die alten Stadtkerne der großen italienischen oder spanischen Metropolen, ja könnten uns sogar vorstellen dort zu leben. Solche Orte gibt es auch in Berlin im Zentrum der Stadt - in der Lehrter Straße und sie könnte ebenso eine ehrliche Touristenattraktion werden wie die gemütlichen Innenstädte der mediterranen Altstädte.

Gibt es in Berlin einen gewachsenen, gepflegten und lebendigen Ort, der durch Städtebaumaßnahmen besser geworden ist? Wir reden nicht von Bauruinen oder toten Plätzen, die wiederbelebt wurden, sondern von gewachsenen, lebendigen, einzigartigen, charmanten und von einzelnen Bewohnern liebevoll gepflegten Plätzen, die in Zukunft einer unüberschaubaren Menschenmenge ausgeliefert und durchgestylten, kalten, geradlinigen, bis in den Himmel reichenden und Wohncontainern gleichenden Gebäuden weichen sollen.

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Können Sie sich vorstellen in den Londoner oder Frankfurter Hochhausbezirken zu leben, scheuen aber den weiten Umzug? Dann melden sie sich jetzt schon als zukünftiger Mieter oder Käufer bei der Vivico an.

Wir halten fest.

Nur weil man arm und sexy ist, muss man nicht gleich auf dem Strich der Investoren zur Schlachtbank geführt werden, wenn man sich seiner Stärken, Ausstrahlung und Einzigartigkeit bewusst wird.

Wenn man den Rücken durchdrückt und ehrliche Arbeit für die Bürger seiner Stadt macht und nicht versucht etwas zu sein, was man nicht ist - Berlin hatte noch nie Geld - kann das Berliner Lebensgefühl gerettet und bewahrt werden.

Es soll ja nicht alles so bleiben, wie es ist - aber, wenn man etwas mit hohem Aufwand "neu" macht, sollte es dann nicht auch deutlich besser und nicht nur anders oder sogar schlechter als vorher sein?

Berliner, sorgt  für eine geringere Bebauungsdichte und Flächenausnutzung um den Berliner Hauptbahnhof herum!

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Denn am Ende geht es einem sonst wie so vielen Verführten..., man bleibt arm, ist kaum noch sexy und gleicht einem austauschbaren, profillosen und fremdbestimmten Etwas oder eben auch einem Jahrmarktbären.

Zum Vergleich hier Fotos von Vivico Projekten aus Frankfurt am Main: Europaviertel und Skyline Plaza.

Text: C. G., Mitglied der Initiative Mittelbereich Lehrter Straße

Fotos: J. S., R. H., E. A., C. G., Mitglieder der Initiative Mittelbereich Lehrter Straße

 

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