Senioren müssen umziehen!
Im September 2008 berichtete Martin Zwick, kaufmännischer Vorstand der Berliner Stadtmission, bei einer Sitzung des Betroffenenrats Lehrter Straße über Veränderungspläne auf dem Grundstück des Zentrums am Hauptbahnhof. Von einem größeren Kongressbereich, einer Aufstockung der Übernachtungskapazitäten und einer größeren Kapelle war - wie auch schon bei einer CDU-Veranstaltung im Juli 2008 - die Rede. Bereits damals war ein Büroneubau mit 500 Arbeitsplätzen im Gespräch, den ein aus Diakonischem Werk (Stuttgart / Berlin) und Evangelischem Entwicklungsdienst (Bonn) zu bildendes Evangelisches Zentrum für und Entwickllung und Diakonie mieten wollte. Es wurde auch schon zu diesem Zeitpunkt über Abriss und Neubau des Eckgebäudes Lehrter Straße 67 / Seydlitzstraße 21, 22 mit Seniorenwohnungen spekuliert, was der Pressesprecher von Brot für die Welt einen Monat später im Oktober 2008 bestätigte.

Anfang 2008 hatte die Stadtmission das früher bezirkseigene Seniorenwohnhaus vom Liegenschaftsfonds Berlin gekauft. Aus Bewohnern eines Seniorenwohnhauses wurden damit ganz normale Mieter. Trotz des im September 2008 gegebenen Versprechens die Betroffenen und die Nachbarschaft zeitnah über alle Entwicklungen und Planungen zu informieren, dauerte das bis zum 26. Januar 2010 (Mieterversammlung) und 2. Februar 2010 (Sitzung des Betroffenenrats Lehrter Straße). Damit ist nun offiziell: das Eckgebäude wird abgerissen und einem Neubau mit bis zu 18.000 Quadratmeter Nutzfläche für Büros, Tagungsräume, Hostelbetten, Kirche und vielleicht auch Wohnungen weichen. Pläne wurden noch nicht vorgestellt. Die Berliner Stadtmission hatte seit September 2009 einen Wettbewerb mit sechs Architekturbüros durchgeführt. Am 20. Dezember 2009 tagte ein Auswahlgremium, an dem auch Mittes Stadtrat für Stadtentwicklung, Ephraim Gothe, teilgenommen hat, wie er in der BVV (Bezirksverordnetenversammlung) am 21. Januar 2010 berichtete. Zwei der Entwürfe werden zur Zeit weiter bearbeitet. Und erst danach wird die Berliner Stadtmission in einer öffentlichen Veranstaltung die Pläne vorstellen. "Keiner der Entwürfe kommt ohne den Abriss des Eckhauses aus. Doch vor Weihnachten wollten wir die Mieter nicht beunruhigen, deshalb fand die Mieterinformationsveranstaltung erst im Januar statt", so Zwick.
Auf dieser wurden den Senioren ein Brief und zusätzliche Informationen mit Hilfsangeboten verteilt und erläutert. Dort heißt es u. a.: "... Selbstverständlich werden wir für die betroffenen Mieter kostenneutral andere Wohnungen beschaffen und sicherstellen, dass die Mieter der Berliner Stadtmission nach Möglichkeit weiter im Kiez und damit in der gewohnten Umgebung bleiben können. Der bisherige Zeitplan sieht vor, dass mit den Bauarbeiten Ende des Jahres begonnen werden soll. ... Daher möchten wir im Einvernehmen mit Ihnen auf Ihre persönlichen Bedürfnisse abgestimmte und sozialverträgliche Lösungen im persönlichen Gespräch entwickeln und Ihnen notwendige mit dem Umzug verbundenen Unananehmlichkeiten soweit wie möglich abnehmen und ersparen." Dreimal die Woche jeweils 3 Stunden wird eine Ansprechpartnerin im Hause erreichbar sein. Laut Informationsblatt sichert die Stadtmission zu, dass die Nettokaltmiete pro Quadratmeter in der neuen von ihr angebotenen Wohnung nicht höher sein wird als in der bisherigen Wohnung und die jeweilige Wohnungsgröße möglichst beibehalten wird. Zusätzlich kostenfreie Umzugshilfe für die Durchführung des gesamten Umzuges innerhalb Berlins, den sie organisiert und durchführt, z.B. auch Lampen und Gardinen anbringt.
Soweit klingt das alles sehr gut. Im benachbarten Seniorenwohnhaus Lehrter Straße 69 A sind zur Zeit 17 Wohnungen frei, die für Mieter, die gerne in der Nähe bleiben möchten, zur Verfügung stehen könnten. Allerdings sind etwa 55 Mieter betroffen, die Angst vor dem Abriss haben, wie die Berliner Woche im Januar schrieb. Sie sind teilweise hochbetagt, 88 und 90 Jahre alt. Für die ist ein Umzug eigentlich nicht mehr möglich.

Auf konkrete Nachfragen einzelner Mieter, ob die Zusicherungen der Berliner Stadtmission für alle Mieter uneingeschränkt bis zum Lebensende gelten, antwortete Zwick während der öffentlichen Betroffenenratssitzung, dass die Zusicherung die Differenz zur neuen Grundmiete zu tragen im Sinne eines Sozialplanes gemeint sei. Wer seinen Lebensunterhalt selbst verdiene, könne auch eine höhere Miete zahlen. Für Leute mit Einkommen, gäbe es keinen Anlass. Ob das auch für Senioren mit einer höheren Rente zutrifft, blieb offen.
Viele weitere Befürchtungen oder auch Anregungen wurden von Mieterseite vorgebracht. Viele sind verstört und enttäuscht, denn sie haben generell damit gerechnet, dass ihr Einzug in eine Seniorenwohnung der letzte Umzug ist und sie dort einen ruhigen und ungestörten Lebensabend verbringen können. Einigen Senioren gefallen die Ein-Zimmer-Wohnungen in der Lehrter Straße 69 A nicht, weil sie Schlafnischen ohne Belüftung haben. Wieder andere würden gerne zusammenbleiben und zweifeln, ob das gelingen kann. Die bisherige Grünfläche direkt hinter dem Haus wird sehr geschätzt. Die Frage danach, wie viele Wohnungen den Mietern angeboten werden, wurde nicht beantwortet, sondern die Bereitschaft erklärt, auf individuelle Wünsche einzugehen. Viele Senioren hätten sich frühzeitigere Informationen - bereits bei den ersten Abrissgedanken - gewünscht. Von demokratischer Planungskultur kann jedenfalls nicht die Rede sein, wenn Wettbewerbe hinter verschlossenen Türen stattfinden und über Abriss erst dann informiert wird, wenn er definitiv feststeht. Die Kritik richtet sich auch an Bezirksamt bzw. Liegenschaftsfonds: man fühlt sich mitverkauft! Es ist kein weiteres Beispiel bekannt, dass nach dem Verkauf einer Seniorenwohnanlage deren Nutzung schon nach 2 Jahren zur Disposition gestellt wurde.
Nachtrag vom 10.2.2010:
Am Dienstag, den 9. Februar wurde das Thema im BVV-Ausschuss für Soziales und Bürgerdienste in der Parochialstraße 3 behandelt. Herr Zwick informierte über den Planungsstand und stellte die Hilfsangebote der Stadtmission für die Seniorinnen und Senioren vor. Fast alle Ausschussmitglieder der Fraktionen in der BVV fragten kritisch nach den Einzelheiten.
Fragen waren z. B. : Wie realistisch sind die Angebote? Wieviele Wohnungen stehen bereits zur Verfügung? Wieviele Menschen sind betroffen? Warum soll die Zahlung der Differenz zur neuen Nettokaltmiete entgegen der Aussage im Mieterbrief vom jeweiligen Einkommen abhängen? Wird Abstand gezahlt, wenn Mieter ihre Wohnung kürzlich renoviert und Einbauten gemacht haben? Wie kann eine unabhängige Beratung und Unterstützung der Betroffenen organisiert werden und durch wen? Sind Abfindungen vorgesehen? Gibt es Mieter, die nicht ausziehen und die Angebote nicht annehmen wollen? Ist das Haus Lehrter Straße 69 A schon verkauft oder will die Stadtmission es auch kaufen?
Die Seniorenvertretung bedauerte, dass auch sie erst vor kurzem von den Planungen durch betroffene Mieter erfahren habe. Herr Rauskolb (CDU-Fraktion) erklärte, dass er vollkommenes Vertrauen in die Stadtmission habe, die durch die kritischen Nachfragen in eine Rolle gedrängt werde, die sie nicht verdient habe. Er regte eine Bürgersprechstunde von Mittes Sozialstadtrat Stephan von Dassel im Hause an.
Herr Zwick und Herr Neugebauer (Stadtmission) erklärten: Bis jetzt haben 40 Gespräche mit Mietern stattgefunden. Es gab auch schon eine Besichtigung in der Lehrter Straße 69 A. Dort stünden zur Zeit 20 Wohnungen frei. Zur Zeit könnten sich 14 der betroffenen Mieter vorstellen dort einzuziehen. Mit der WBM sei der behindertengerechte Umbau der Duschen vereinbart. Auch Küchen würden bei Bedarf umgebaut. Die Stadtmission will auf die Wünsche und Bedürfnisse der Mieter eingehen, diese können sich im Laufe der Gespräche auch ändern. Die Stadtmission nimmt Kontakt auf zu anderen Wohnprojekten und seniorengerechten Häusern in Moabit. Sie nimmt auch Kontakt zu den Angehörigen auf. Es werde auch nach 2-Zimmer-Wohnungen gesucht. Die Stadtmission plant auch die Senioreneinrichtungen der Berliner Stadtmission mit Interessierten zu besuchen. Oder sie wird sich um andere Seniorenwohnhäuser am Stadtrand bemühen, wenn der Wunsch danach entstehe. Es gäbe aber auch Mieter, die wegziehen wollen, weil sich die Situation in der Lehrter Straße in den letzten Jahren verändert habe und weiter verändern wird. Selbst wenn nicht die Entscheidung für den Abriss gefallen wäre, hätte das Haus modernisiert werden müssen und die Mieten wären gestiegen. Herr Zwick erklärte ausdrücklich, dass sich diejenigen, die sich eine höhere Miete leisten können, diese selbst zahlen müssten. Die Stadtmission sehe sich nur verpflichtet, denjenigen zu helfen, die kein Geld haben. Umzüge werden bezahlt und es gibt konkrete Hilfe. Es bestehen insgesamt 57 Mietverträge, allerdings gäbe es auch ungenutzte Wohnungen. Bis jetzt wurde noch keine Wohnung gekündigt, weil die Stadtmission Einvernehmen herstellen möchte. Zur Frage einer unabhängigen Beratung (Seniorenvertretung, Mieterverein waren angesprochen worden) wird daran gedacht, möglicherweise die ASUM als unabhängige Mieterberatung zur Unterstützung der Mieter einzusetzen. Es gibt einzelne Bewohner, die sich an Abgeordnete wenden. Herr Zwick lud ausdrücklich dazu ein, auf die Stadtmission zurückzukommen und sie zu konfrontieren, um die Angebote zu verbessern oder anzupassen.
Zur Frage nach dem Verkauf des Hauses Lehrter Straße 69 A gab es keine Antwort. Der Stadtrat erklärte, dass Verkaufsverhandlungen laufen und währenddessen keine Auskunft gegeben werden kann.
Nachtrag vom 24.2.2010:
Ein gemeinsamer Antrag der SPD- und Bündnisgrünen Fraktion in der BVV möchte ein unabhängiges Sozialplanverfahren für die Mieter erreichen. Hier der Artikel in der heutigen Berliner Woche.
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Hier die Antwort auf eine große Anfrage (DS 1539/III) zum Verkauf des Seniorenhauses Lehrter Straße 69 A, in der erklärt wird, dass der Generalmietvertrag für das Haus zum 31.12.2010 erstmals gekündigt werden konnte und dass Verkaufsverhandlungen mit der benachbarten Stadtmission geführt werden, weil das Bezirksamt davon ausgeht, dass die Stadtmission eine geeignete Institution ist, um das Seniorenwohnhaus sozialverträglich weiterzuführen.
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Hier eine Mitschrift der CDU-Bürgersprechstunde für die Senior_innen vor Ort, die am 12.3.2010 stattgefunden hat.
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Am 13.4. berichtete die BZ über die Entmietung der Senior_innen, auch das MieterMagazin Ausgabe April 2010.
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Berliner Woche vom 18.8.2010 berichtet im Artikel "Senioren müssen umziehen", dass das kirchliche Projekt mehr Platz und Zeit bräuchte, aber noch kein Bauantrag gestellt sei. Nun zeigt sich ab Mitte Oktober zunächst angedeutet in Pressemitteilungen des Evangelischen Pressedienstes (siehe Kommentare Nr. 21 und 22), dass das ganze Vorhaben noch scheitern kann. Die Diakonie hält an ihrem Zeitplan fest und hat ein Alternativgrundstück in Aussicht. Angeblich ist am 3. November 2010 Deadline! (Kommentar Nr. 25). Und die Mieter? Die Senioren? Einige haben sich umsetzen lassen. Freiwillig? Angst? Ob es denen, die noch keine Ersatzwohnung akzeptiert haben nun besser geht? Die freien Wohnungen werden befristed an Studenten und junge Leute vermietet.
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Jetzt kommt das Projekt nicht, von 57 Wohnungen sind bis auf etwa 16 alle entmietet. Viele Senioren sind in die Lehrter Straße 69 A umgesetzt worden. Und was passiert dort? Zum Jahreswechsel wurde die Verwaltung des bezirkseigenen Mietshauses an die Berliner Stadtmission abgegeben und die Senioren mussten ihre Schlüssel für den Gemeinschaftsraum abgeben. Die Berliner Woche fragt: Wo bleibt die Nächstenliebe? Zum abgesagten Projekt nach Umsetzung der meisten Senioren auch das MieterMagazin, Ausgabe Jan./Feb. 2011.