Maryam Stibenz im Interview

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Maryam Stibenz ist seit Anfang 2009 die neue Integrationsbeauftragte des Bezirksamts Mitte. Nach ihrem Physikstudium unterrichtete sie Mathematik und Physik im Lette-Verein. Später wechselte sie in die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Sie ist 34 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Das Gespräch führte Susanne Torka.

Bevor Sie Integrationsbeauftragte wurden, haben Sie viele Erfahrungen gesammelt. Was möchten Sie unseren Lesern über Ihren schulischen und beruflichen Werdegang erzählen?

Ich kam mit 13 Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Zunächst bin ich automatisch in einer Hauptschule eingeschult worden. Dank meines Klassenlehrers, der sich sehr stark für mich eingesetzt hat, kam ich auf eine Gesamtschule. Ich hatte mit meinen Lehrerinnen und Lehrern, besonders den Klassenlehrern, sehr viel Glück gehabt und bin ihnen immer noch dankbar, dass sie nicht etwa Mitleid mit mir hatten, sondern mich mit echtem Interesse begleiteten. So konnte ich Abitur machen und studieren. In meiner Studienzeit arbeitete ich als sozialpädagogische Fördergruppenleiterin. Bei dieser Arbeit ging es um Integration der Jugendlichen aus ressourcenarmen Familien. An der Freien Universität Berlin  war ich vier Jahre lang als gewählte Frauenbeauftragte des Fachbereichs Physik tätig. Im Lette-Verein arbeitete ich als Lehrkraft für Physik und Mathematik und war gewählte Vertrauenslehrerin.

Was sind Ihre Ziele als Integrationsbeauftragte des Bezirksamts Mitte für die ersten zwei Jahre?

Ein Schwerpunkt wird die interkulturelle Öffnung der Verwaltung sein. Die Bedeutung und Notwendigkeit der interkulturellen Öffnung von öffentlicher Verwaltung und Regeldiensten ist angesichts der Bevölkerungstruktur und -entwicklung nicht nur in Fachkreisen unstritig, sondern wird allseits als sinnvoll qualizierende Ergänzung des fachlichen Know-hows eingeschätzt. Hier geht es nicht darum KulturSpezialist zu werden. Menschen sind verschieden, das betrifft nicht nur die Herkunftskultur und Religion, sondern zum Beispiel auch sexuelle Orientierung und Identität oder Behinderung. Es geht darum, zu lernen, wie man mit „anders sein" umgeht und „Vielfalt" zu akzeptieren und als Bereicherung zu empfinden.

Wie wollen Sie denn die interkulturelle Öffnung der Verwaltung erreichen, ohne mehr Mitarbeiter mit Migrationshintergrund einzustellen?

Fehlende Mittel für Einstellungen sind ein Problem. Wir müssen nach anderen Möglichkeiten schauen, behelfen uns deshalb zum Beispiel mit Honorarverträgen oder PraktikantInnen. Wir müssen mehr junge Menschen mit Migrationshintergrund für die Ausbildung in der Verwaltung gewinnen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Kampagne „Berlin braucht Dich" des Berliner Integrationsbeauftragten hinweisen.

Welche Rolle werden die vielfältigen Migranten- und Moscheevereine spielen?

Migrantenvereine haben in den letzten Jahrzehnten eine große Entwicklung durchlaufen. Ging es früher um Förderung der Kultur des jeweiligen Herkunftslandes, führen die Vereine jetzt eigene Projekte durch. Da muss man genau hinschauen, welche sozialen und politischen Ziele verfolgt werden. Es darf keine Rückwärtsentwicklung der Demokratie geben. Ich sehe die Vereine in einer Mittlerrolle. Sie erreichen die Menschen in ihren „communities" und sollten sie an die allgemeine professionelle Regelversorgung heranführen. Die Verwaltung ihrerseits muss der Verantwortung nachkommen, ihre Dienste für Alle gleichermaßen anzubieten.

Es gibt kaum einen Begriff, für den es widersprüchlichere Definitionen gibt, als den Begriff „Integration". Was verstehen Sie unter Integration?

Als Physikerin hat mich der Umgang der Sozialwissenschaften mit Begriffsdefinitionen zunächst verwirrt. Es werden eher neue Begriffe erfunden, als eine Einigung über Begriffe. Integration heißt für mich persönlich: die chancengleiche Teilhabe an allen zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Bildung, Erziehung, Wirtschafts- und Arbeitsleben. Vor allem eine chancengleiche Teilhabe in Bildung und Erziehung ist sehr wichtig. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Teilhabe in anderen Bereichen wie Arbeitsmarkt und Wirtschaftsleben. Was der Begriff Integration für den Bezirk Mitte bedeutet, muss noch definiert werden. Dabei ist mir wichtig, Raum für Diskussion über verschiedene Interpretationen zu geben.

Sie haben erklärt, dass Sie den Schwerpunkt auf die Arbeit mit jungen Menschen und Familien legen wollen. Was halten Sie dabei für besonders wichtig?

Es geht einerseits um Vorbilder für junge Menschen, die merken sollten, dass Bildung der Schlüssel zum Erfolg ist. Oft wird behauptet, dass sich Eltern mit Migrationshintergrund kaum um ihre Kinder kümmern. Das stimmt so nicht. Um das Verhalten der Eltern zu verstehen, muss man sich die Situation eingewanderter Familien klarmachen. Z.B. beherrschen in diesen Familien die Kinder die Sprache besser als die Eltern und finden sich in den gesellschaftlichen Institutionen besser zurecht, müssen zum Beispiel oft bei Behördengängen übersetzen. Normalerweise müssen die Eltern ihre Kinder stark machen, damit sie in der Gesellschaft ihren Platz finden. In solchen Familien geschieht das aus Mangel an Möglichkeiten zum Teil umgekehrt. Die natürliche Rolle, die Eltern in einer Gesellschaft normalerweise einnehmen, ist dadurch gestört. Wir müssen mit geeigneten Instrumenten an spezielle Bedürfnisse dieser Familien rangehen. Projekte wie das Lotsenprojekt "Die Brücke"  stehen den Familien zur Seite, indem sie die Vermittlerrolle zu den Behörden einnehmen und Hilfe zur Selbsthilfe bieten. In Bereich Elternbildung und Sprachfördung ist z.B. unser Volkshochschule ein Vorreiter.

Nachtrag vom 27.05.2010
Maryam Stibenz, seit einem Jahr Migrationsbeauftragte des Bezirks Berlin-Mitte, sprach im Januar 2010 im ErzählCafé des Kreativhaus über ihre Vorstellungen und Ansätze von Integration, nachfolgend das Video dazu.

Das Integrationprogramm des Bezirks Mitte ist auf der Webseite der Integrationsbeauftragten herunterzuladen, wie auch viele interssante Links zum Thema.

Nachtrag vom 28.07.2013
Nach vier Jahren Amtszeit gibt Maryam Stibenz ihr Amt als Integrationsbeauftragte auf (Berliner Zeitung) und wird wieder als Mathematik- und Physiklehrerin arbeiten.

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