Jugend: laut und klar <br/>Jugendstadtrat: Hausaufgaben verweigert

Droht die Kinder- und Jugendarbeit im Bezirk Mitte, die derzeit einer Frau mit Modellmaßen gleicht, magersüchtig zu werden oder gar den Hungertod zu sterben? Über 100 Kinder und Jugendliche sowie Vertreter von Jugendeinrichtungen aus dem Bezirk fürchten dies und protestierten vor der Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses (JHA) am 6. August gegen eine Kürzung von Mitteln der Jugendarbeit im kommenden Haushalt für die Jahre 2010/11.

Die lautesten waren Kinder des Schulgarten Moabit, die ununterbrochen „Rettet den Schulgarten Moabit!“ skandierten. Aber auch Jugendliche und Mitarbeiter zahlreicher anderer Einrichtungen, über denen das Damoklesschwert von Kürzungen schwebt, zeigten mit Transparenten, Schildern und Rufen ihren klaren Protest gegenüber Kürzungen des Haushalts im Jugendbereich.
Zehn Minuten vor Sitzungsbeginn trat Ulrich Davids, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses und Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung vor die versammelten Demonstranten und erklärte, dass er es gut findet, dass die Kinder und Jugendlichen demonstrieren, aber der Platz im Sitzungssaal nicht ausreicht, dass alle Jugendlichen hinein können. Mehrere Dutzend Jugendliche und Mitarbeiter von Einrichtungen fanden aber Platz, wenn nicht sitzend zumindest stehend, im größten zur Verfügung stehenden Raum des Gebäudes, dem Otto-Suhr-Saal und auf dessen Empore. Etwas seltsam mutete der Weg innerhalb des "Neuen Stadthaus" zum Sitzungssaal an, kam Mensch doch an etlichen Polizisten vorbei, meinte hier jemand das Bezirksamt und die Verwaltung vor Kindern und Jugendlichen mit Polizeigewalt schützen zu müssen?
Bevor es in die Tagesordnung des Ausschusses ging, erhielt eine Vertretung des Weinmeisterhauses in Mitte – einer Jugendkultureinrichtung in der Weinmeisterstraße – die Möglichkeit, eine direkte Erklärung abzugeben, sie hatte schon vier Wochen vorher schriftlich darum gebeten. Drei Jugendliche des Hauses und eine studentische Spielleiterin der Theatergruppe „Querstreicher“ sagten klar und deutlich, was für sie (und viele andere NutzerInnen) ihre Einrichtung an Jugend-Kultur-Bildungsarbeit leistet.
Einen anderen Eindruck machte dagegen Bezirksstadtrat Rainer Maria Fritsch, der im Bezirksamt für die Abteilungen Jugend und Finanzen zuständig ist. War doch das Thema Haushalt 2010/11 der ausschlaggebende Tagesordnungspunkt, weshalb die Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses einberufen worden war. Denn entweder hatten der Stadtrat bzw. seine Verwaltungsmitarbeiter ihre Hausaufgaben nicht gemacht oder – und das schien mehr zu zu treffen – wollten den Arbeitsstand und ihre Kürzungsüberlegungen nicht präsentieren. Denn Rainer Maria Fritsch beschränkte sich – abgesehen davon dass er Verständnis für die Betroffenheit der Kinder und Jugendlichen zeigte – mit konkreten Zahlen einzig auf die Gesamtheit der Entwicklung der Ausgaben 2001-2006 bzw. Ansätze 2007-2009 und einen vorläufigen Entwurf 2010/11 [Stand 31.7.2009] bei der Förderung der freien Träger der Jugendhilfe (nach §§11, 12, 16 und bei Leistungsverträgen nach §13,1 SGB VIII). Gegenüber dem Ansatz für 2009 sinkt der Förderbetrag für die freien Träger nach dieser Aufstellung von 4,819 Mio EUR um622.000 EUR auf 4,197 Mio EUR. Die Daten für den Entwurf für 2010/11, so Fritsch, müssen jedoch noch bis Ende August überprüft werden und außerdem sei im Bezirkshaushalt immer noch ein Loch von knapp 2 Millionen Euro zu stopfen. Insgesamt hat der Bezirk eine Haushaltslücke von ca. 37 Millionen Euro durch Ausgabenkürzungen zu stopfen, von denen möglicherweise 10.8 Millionen erlassen werden, wenn der Bezirk dem Land Berlin ein für das Land plausibles Konsolidierungskonzept vorlegt. Fritsch erklärte, dass Hauptursache des Haushaltsdefizits Kosten für Gebäude, insbesondere für untergenutzte Schulen seien und warf dem früheren Bezirksamt vor, hier nicht rechtzeitig gehandelt zu haben, z.B. beim Schließen von Schulen. Die notwendigen Mittelkürzungen im Haushalt treffen natürlich nicht nur den Jugendbereich, sondern auch andere soziale Bereiche, Bildung und Kultur.
Fritsch weigerte sich jedoch die Vorschläge aus seiner Verwaltung zu den Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit – neben den freien Trägern ist auch der öffentliche Träger berührt – zu präsentieren, was für Empörung der Mitglieder des JHA und der Gäste sorgte. Dieses Vorgehen hatte das Bezirksamt – bestehend aus Bezirksbürgermeister und allen Stadträten – festgelegt, was klar im Widerspruch zur Gesetzeslage steht. Denn das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), ein Bundesgesetz, schreibt die frühzeitige Einbeziehung – vor einer Beschlussfassung des Bezirksamtes – des Jugendhilfeausschusses vor. Der JHA hat nach KJHG viel weitergehende Rechte als ein sonstiger BVV-Ausschuss: Er ist per Gesetz Bestandteil des Jugendamtes. Und auch wenn in den gegenwärtigen Zahlen, die die Verwaltung aufgestellt hat, noch kleinere Fehler sein sollten, wäre ab der Sitzung eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Verwaltung möglich gewesen. Nach Beschlusslage beim Ausschusstermin wird dies erst ab Anfang September geschehen. Gleich zwei Sitzungstermine am 2. und 3. September, jeweils ab 17 Uhr wurden verabredet. Und Stadtrat Fritsch sagte zu, dass die JHA-Mitglieder 14 Tage vorher einen vorläufigen Arbeitsstand und Ende August die dazu zwischenzeitlich noch vorgesehenen Änderungen übermittelt bekommen. Während der Sitzung wurde bekannt, dass einzelne Mitglieder des JHA aber schon Kenntnis des Verwaltungs-Papiers haben. So berichtete die BVV-Verordnete und JHA-Mitglied Jutta Schauer-Oldenburg, dass sie in ihrem Briefkasten ein ihr zugespieltes Exemplar vorfand. Und auch im Internet findet sich eine Beschreibung von einigen der Kürzungsabsichten, die verlinkte Quelle spricht davon, dass im Kinder und Jugendbereich gar insgesamt 3,3 Millionen Euro eingespart werden sollen.
Für September/Oktober wird dann die „heiße Phase“ der Diskussionen erwartet. Im Dezember muss spätestens die Bezirksverordnetenversammlung Mitte den Haushalt beschließen, sonst übernimmt das Land Berlin die Haushaltsführung. Wahrscheinlich sind auch dann wieder solche Bilder zu sehen:
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