Ein vermeidbarer Tod – Erinnerung an Ulli S.

Ulli S. hatte einige Jahre im Berliner Bezirk Moabit in der Rostocker Straße gelebt. Er war Koch.
Unsere erste Begegnung fand im Frühsommer 2006 in einer Speisegaststätte in der Wiclefstraße/ Beusselstraße statt. Es gab recht gutes Essen deutscher Art mit nordrhein-westfälischem Einschlag. Und das zu moderaten Preisen, die auch von Moabiter ArbeiterInnen und Erwerbslosen bezahlt werden konnte. Ulli kochte. Seine damalige Lebensgefährtin war die Inhaberin der Kneipe. Sie zapfte, bediente, und leider machte sie auch die Buchhaltung. Der Laden lief schlecht, ging in Konkurs. Die Beziehung ging in die Brüche und Ulli zum Jobcenter.
Ein kochendes Arbeiterkind aus Essen hielt das nicht lange aus. Da die Löhne in der Gastronomie in astronomische Tiefen kletterten, kochte Ulli im feinen Zehlendorf und erhielt ergänzend Hartz IV. Überstunden und Extraarbeiten allerdings wurden dem Jobcenter nicht mitgeteilt. Er ahnte wohl, dass das auch eine Agentur des Feindes war. Ende 2008, Ulli wollte mit Freundinnen nach Mallorca, sagte er plötzlich seinen Anteil am Urlaub ab. Ich hatte ihn besucht und erfuhr, dass seine Blutwerte schlecht waren und er erst einmal auf die Untersuchungsergebnisse warten musste. Einige Tage später dann: die Krankschreibung!
Zuerst einmal eine lange Krankschreibung, dann folgte die betriebsbedingte Kündigung. Ulli war nun chronisch krank und berufsunfähig. Er musste Medikamente dauerhaft einnehmen. Die Zuzahlung strapazierte sein knappes Budget. Sein Antrag auf Mehrbedarf wegen seiner Diabetes II wurde vom Jobcenter abgelehnt. Begründung: Die Diabetes II sei durch Fehlernährung selbst verschuldet. Ulli ging vor Gericht. Das Jobcenter in die Berufung.
Die Entscheidung der letzten Instanz erlebte Ulli nicht mehr.

Die Wohnung, in der Ulli zuerst lebte, war von Schwarzschimmel befallen. Das Jobcenter genehmigte den Umzug in eine geeignete Wohnung nicht, weil sie 2 (!) qm zu groß war. Ulli zog trotzdem um. Das Jobcenter kürzte die Kosten der Unterkunft um 30%. Ulli ging vor Gericht. Das Jobcenter ging durch alle Instanzen. Auch hier erlebte Ulli die Entscheidung des Gerichtes nicht. Er bekam am Ende seines Lebens Grundsicherung im Alter. Die Entscheidungen des Jobcenters wurden vom Amt für Grundsicherung (Sozialamt) fortgesetzt. So hatte er nie genug zum Leben. Er hatte 38 kg an Gewicht verloren. Ulli starb Ende des Monats und am Ende des Geldes im Sommer 2012 in seiner Wohnung. Die Medikamente gingen zu Ende. Im Kühlschrank gab es noch eine Scheibe Brot und einen Rest Marmelade.
Als der Kapitalismus die Pferde nicht mehr brauchte, wurden sie abgeschafft. Sie endeten beim Schlachter. Wenn der Kapitalismus heute den Arbeiter nicht mehr braucht ... ???
Text: Petra Leischen, Fotos: Susanne Torka
Petra Leischen hatte das Thema für das Stadtteilplenum im März vorgeschlagen: Armut in Moabit.
Beim Bericht auf der QM-Seite ist der Vortrag, den ihr Kollege vom Informationsdienst für kritische Medienpraxis, Dr. Richard Herding, dort gehalten hat, verlinkt.
"Erinnerung an Ulli S." von Petra Leischen ist, nach dem traurigen aktuellen Anlass, Teil des geplanten Berichts "Armut in Moabit". In dem für 2014/2015 vorgesehenen Buch soll über einen Berliner Innenstadt-Bezirk berichtet werden, der vom Armuts-Problem stark betroffen ist, in dem sich aber auch Betroffenen-Initiativen gegen die sogenannte Agenda 2010 ("Hartz IV") und gegen die Gentrifizierung zusammengetan habn. Der Bericht lehnt sich an die Betroffenen-Sicht und an wissenschaftliche Unterlagen zum Armuts-Thema an. Äußerungen von AktivistInnen werden zentrale Bedeutung haben.