Der letzte Weg vom Sammellager zum Deportationsbahnhof

ging für mehr als 30.000 Tausende** von insgesamt 50.000 deportierten jüdischen Berlinern - Frauen, Männern und Kindern – über eine Strecke von etwa 2,5 km quer durch Moabit. Nicht bei Nacht und Nebel sondern am hellichten Tag wurden sie in großen Gruppen über Jagowstraße – Alt-Moabit – Thusnelda-Allee, vorbei an der Heilandskirche und weiter über die Turmstraße, Lübecker Straße, Birkenstraße, Havelberger Straße zur Quitzowstraße getrieben, wo zwischen Lidl und Hellweg ein schmaler Weg, der noch mit dem alten Kopfsteinpflaster belegt ist, zu einem kurzen Stück der verbliebenen Rampe des Güterbahnhofs Moabit führt. Und fast niemand wollte etwas gesehen haben.
Mitglieder der Initiative "Sie waren Nachbarn", die nach der Veröffentlichung der Listen der mehr als 1.800 Moabiter Deportierten vor zwei Jahren jetzt die Kampagne „Ihr letzter Weg“ ins Leben gerufen haben, markierten am vergangenen Samstag und Sonntag einen Teil der Strecke vorläufig mit gelber Kreidefarbe. Dabei war es zu einem kurzen Zwischenfall gekommen, weil ein Passant offensichtlich die Polizei alarmiert hatte. Fünf Streifenwagen rasten mit Martinshorn heran. Deren Besatzung konnte sich jedoch von der Harmlosigkeit der „Sprüher“ überzeugen lassen. Schließlich ist die Farbe komplett abwaschbar.

Heute haben Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse der Hedwig-Dohm-Oberschule die noch fehlende Wegstrecke bis zum Deportationsort gekennzeichnet. Vorher hatte die Klasse sich mit der Deutschlehrerin Susanne Rieger ausführlich mit dem Thema beschäftigt und über viele Wochen das „Tagebuch der Anne Frank“ komplett gelesen. Sie haben an einem Programm im Anne-Frank-Zentrum teilgenommen und würden auch gerne noch einen Zeitzeugen einladen.
Bei der Wegmarkierung starteten sie in der Nachbarschaft der Schule etwa auf Höhe der Bruno-Lösche-Bücherei. Mädchen und Jungen waren gleichermaßen aktiv dabei. Sie mussten sich sechs Spraydosen mit Kreidefarbe, drei Sternschablonen und die Schriftschablone teilen. Das klappte recht gut. Alle wollten mal sprühen. Manchen ging dann auch mal was daneben. Aber das ist nicht so schlimm, es ist ja abwaschbar. Sie bedauerten allerdings, dass es nur gelbe Farbe gab. Zum Schluss las eine Schülerin den Text auf der Gedenktafel* an der Quitzowstraße für alle anderen vor und der Deportationsort mit dem Rest der Rampe und dem Gleisstück in authentischer Lage wurde besichtigt (auf dem Foto unten: der Zustand 2009, da kann man die Rampe noch besser erkennen). Die Planung für den 2007 angedachten Gedenkort an dieser Stelle ist über Jahre in Vergessenheit geraten, wird jetzt jedoch im Bezirk wieder aufgenommen.

Als Dankeschön erhielten alle Beteiligten ein Comic. Für die Aktionstage vom 18. Oktober bis 9. November 2013 hat Tobias Deicke die Geschichte einer deportierten Familie gezeichnet. Die Initiative möchte mit den Aktionstagen “Ihr letzter Weg” dazu beitragen, dass der Weg im Stadtbild dauerhaft gekennzeichnet wird. Auf ihren Aufruf zu Beginn des Jahres haben sich viele Künstlerinnnen und Künstler gemeldet. Alexander Kupsch hat vier Plakate gestaltet, die in vielen Läden aushängen. Vor einer Woche wurde bei der Auftaktveranstaltung die Ausstellung der Kunstwerke in der Heilandskirche eröffnet. Die Rede bei der Auftaktveranstaltung geht ausführlich auf Hintergrund und Intention der Initiative ein. Noch zwei Wochen lang finden Theateraufführungen, Performance, Lesungen und Musik (hier alle Veranstaltungen) statt.
Ein Teil der Sachkosten (Druck der Plakate und Comics und einen Teil der Flyer) für die Aktionstage wurde vom Quartiersmanagement Moabit-Ost aus Mitteln der Sozialen Stadt finanziert. Alles andere aus Spenden.
Kontakt: www.sie-waren-nachbarn.de / www.ihr-letzter-weg.de
* Text der Gedenktafel:
„Im nationalsozialistischen Deutschland wurden von Berliner Bahnhöfen zwischen Oktober 1941 und dem Frühjahr 1945 über 50.000 Juden aus Berlin und anderen Orten deportiert. Zielorte waren Ghettos, Lager und Vernichtungsstätten in den von Deutschen besetzten sowjetischen, polnischen und tschechischen Gebieten, wie in Riga, Minsk, Lodz, Theresienstadt oder Auschwitz. Nur wenige haben überlebt.
Die Berliner Deportationsbahnhöfe waren der Bahnhof Grunewald, der Anhalter Bahnhof und vor allem der Güterbahnhof Moabit, von dem über 30.000 Juden verschleppt wurden. Viele Deportierte befanden sich vorher in der „Sammelstelle“, die die Gestapo in der dazu zweckentfremdeten Synagoge in der Levetzowstraße eingerichtet hatte. Sie wurden auf LKWs oder zu Fuß durch das Stadtviertel zum Eingang des Güterbahnhofes in der Quitzowstraße verbracht, von SS- und Gestapo-Angehörigen über den gepflasterten Weg zu den Gleisen 69, 81 und 82 getrieben und in Güterwaggons der Deportationszüge gepfercht. Dies geschah nicht im Geheimen, sondern unter den Augen der Anwohner.
Seit 1987/88 erinnern Mahnmale am Bahnhof Grunewald, auf der Putlitzbrücke und in der Levetzowstraße an diese Verbrechen. Auf dem Reichsbahngelände des Güterbahnhofs Moabit war dies bis 1989 politisch nicht möglich. Im Zuge der aktuellen städtebaulichen Umgestaltung dieses Areals beabsichtigt das Land Berlin die Einrichtung eines Gedenkorts, der an die Deportationen von diesem Bahnhof und an das Schicksal der Deportierten erinnern soll.“
** zu den Zahlen gibt es neuere Forschungen:
Vom Güterbahnhof Moabit wurden mehr als 30.000 jüdische Menschen deportiert. Aber diese waren vorher nicht alle im Sammellager Levetzowstraße untergebracht. Insgesamt gab es 15 (oder 16) Sammellager in Berlin, die teilweise nur tageweise genutzt wurden. Bis August 1942 wurden die Menschen aus der Levetzowstraße nach dem Bahnhof Grunewald gebracht. Von Mitte August bis Oktober 1942 von der Levetzowstraße zum Güterbahnhof Moabit. Ab November 1942 wurde das Sammellager Levetzowstraße geschlossen und vor allem das Lager in der Großen Hamburger Straße, das wie ein Gefängnis ausgebaut war, genutzt. Die vom Güterbahnhof Moabit Deportierten kamen also aus anderen Lagern. Das änderte sich bei der Fabrikaktion noch einmal. Im März/April 1943 wurde die Synagoge Levetzowstraße noch einmal als Sammellager genutzt. Auch in der Ulanenkaserne Rathenower Straße/Invalidenstraße im Tattersaal der Feldzeugmeisterstraße war in dieser Zeit ein Sammellager.
Quellen: Philipp Dinkelaker, Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße im Rahmen der „Judendeportationen“ Magisterarbeit 2013, ist 2017 im Metropol Verlag erschienen (Rezension Tsp.).
Akim Jah, Sammellager in Berlin – Nationalsozialistische Lager im Kontext der „Judendeportation“ aus dem Reich 1941–1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013)
Akim Jah, Die Deportation der Juden aus Berlin. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und das Sammellager Große Hamburger Straße, erscheint November 2013
Liste der Deportationszüge aus Berlin.
Alfred Gottwald, Mahnort Güterbahnhof Moabit, 2015 bei Hentrich+Hentrich erschienen
:
Ein schöner Bericht im Neuen Deutschland über die Markierungsaktion der Schule.
Bericht über die Initiative "Sie waren Nachbarn" bei "Erfahrung ist Zukunft".
Shimon Lev aus Israel besuchte die Thomasiusstraße 11, das frühere Wohnhaus seiner Familie (Berliner Woche).
Über die Stolpersteine und Recherchen in der Thomasiusstraße (Quiez.de)
Am 8. August 2014 wurden die "ersten 39 Stolpersteine" (so der Artikel, aber es wurden schon 2012 uns 2013 einige Steine verlegt) von insgesamt 107 in der Thomasiusstraße verlegt (Berliner Woche, B.Z.), am späten Nachmittag fand eine Gedenkveranstaltung im Gemeindesaal von St. Johannis statt (Bericht der Initiative Sie waren Nachbarn und der Fürst-Donnersmarck-Stiftung).
Film über die Stolpersteinverlegung am 8. August 2014 bei Youtube.
Bewegender Artikel über die Nachbarn in der Thomasiusstraßen-Initiative und ihre internationalen Kontakte (Welt).
Ein Film bei Youtube: Memorial Places
Helmut Mehnert fordert im gleisdreieck-blog Erinnerung an die Deportationen auch am Anhalter Bahnhof und im Gleisdreieck-Park.
Alfred Gottwaldt hat ein neues Buch über den "Mahnort Güterbahnhof Moabit" veröffentlicht, das am 25. Februar 2015 noch einmal in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung vorgestellt wurde. Über die Veranstaltung in der Topographie des Terrors berichtet die Berliner Woche: "Unwürdiger Zustand. Kritik an dem Gedenkort auf dem Güterbahnhof Moabit". Hier ist zu lesen: "Gemeinsam mit einer bezirklichen Kunst-am-Bau-Kommission und einem Expertengremium, dem auch Andreas Nachama angehört, hat die Kulturstadträtin die Modalitäten für einen künstlerischen Wettbewerb zur Neugestaltung des Ortes erarbeitet. Das Land Berlin finanziert die rund 50 000 Euro teure Durchführung des Wettbewerbs, die Stiftung Deutsche Klassenlotterie soll den Bau bezahlen. Einen entsprechenden Antrag hat der Bezirk gestellt. Andreas Nachama zeigt sich 'verhalten optimistisch'."
Bezirksamts-Vorlage 1101/2015 vom 24.2.15 zur Errichtung eines Gedenk- und Lernortes am Güterbahnhof Moabit ist hier herunterzuladen. Es sind 50.000 Euro für einen Wettbewerb vorhanden, der aber erst dann ausgelobt werden soll, wenn auch die Gelder für die Umsetzung vorhanden sind. Dafür wurden Lottomittel beantragt, über die im 2. Quartal 2015 entschieden wird.
Neue MoabitOnline-Artikel 2015:
"Aktion für einen Gedenkort" und "Finanzierung des Mahnmals beschlossen"
2016: "Vorstellung des Wettbewerbsergebnisses" und 2017: "Gedenkort Güterbahnhof Moabit eingeweiht"
Ausstellung der Initiative "Sie waren Nachbarn e.V." zum Deportationsweg im Nov./Dez. 2018
Es gibt eine neue Ausstellung unserer Initiative "Sie waren Nachbarn" im Schaukasten vor dem Rathaus Tiergarten. Sie stellt mehrere Stationen am Deportationsweg zwischem der als Sammellager missbrauchten Synagoge in der Levetzowstraße und dem Bahnhof Moabit in der Quitzowstraße vor.
Die Ausstellung ist bis Ende Dezember zu sehen.