Das Alter – Ein Blick hinter die dicken Brillengläser

Neulich fragte mich eine junge Frau, wie man sich so als alter Mensch fühlt. Ich war im ersten Moment schockiert, aber sie hatte  ja Recht, ich bin eine alte Frau. Als sie meine Reaktion bemerkte, wurde sie verlegen. Ich sagte ihr, dass das eine interessante Frage sei, über die ich nachdenken müsse. Ich würde sie ihr später beantworten.

Alter, zu dem Schluss kam ich dann, ist ein Geschenk!

Ich bin heute, möglicherweise zum ersten Mal in meinem Leben der Mensch, der ich immer sein wollte. Nicht gerade mein Körper!  Da kann ich auch schon manchmal zweifeln - diese Falten im Gesicht und der Quabbelbauch. Da bin ich auch schon mal geschockt, was für eine alte Dame da in meinem Spiegel wohnt. Aber mit diesen Gedanken quäle ich mich nicht lange herum.

Niemals würde ich meine liebevolle Familie,  meine guten Freunde, mein herrliches Leben hergeben für weniger graue Haare und einen straffen Bauch.

Mit dem Alter wurde ich netter zu mir selbst und weniger kritisch. Verwöhne mich und meinen Magen und lebe auch schon mal nur so in den Tag hinein, eine Delle im Sofa hätte mich früher mal gestört.

Viele liebe Menschen mussten diese Welt so früh verlassen, ohne diese große Freiheit kennen gelernt zu haben, die das Alter mit sich bringt.

Ich werde am Strand entlang gehen in einem Badeanzug, der sich über meinem Bauch wölbt. Ich kann mich selbstvergessen den Wellen hingeben, wenn ich Lust dazu habe und dabei stolz die Bikini-Clique am Strand  beobachten - auch sie werden einmal alt!

Ich weiß, ich bin manchmal ein bisschen vergesslich, aber auch hier denke ich, dass Manches zu Recht dem Vergessen an heim fällt und ich vielleicht nur die wichtigen Dinge behalte.

Im Laufe der Jahre wurde mir das Herz mehrfach gebrochen. Wie kann dein Herz nicht gebrochen werden, wenn du einen geliebten Menschen verlierst. Aber gebrochene Herzen geben auch wieder Kraft, Verständnis und Mitgefühl. Ein niemals gebrochenes Herz ist kalt und wird nie wissen, wie schön es ist, unvollkommen zu sein.

Ich finde es als Gnade, dass ich so lange doch verhältnismäßig gesund leben durfte.

Je älter ich werde, desto positiver denke ich. Du kümmerst dich weniger um das, was die Leute denken. Ich stelle mich heute selbst nicht mehr in Frage. Ich nehme mir sogar das Recht, mich zu irren.

Ich kann also sagen: ich bin gerne alt. Es hat mich befreit. Ich mag den Menschen, der ich heute bin. Ich werde nicht ewig leben, aber solange ich noch hier bin, werde ich keine Zeit damit verlieren, zu lamentieren über das, was hätte sein können. Erstmals im Leben brauche ich mich nicht mehr zu rechtfertigen für das, was ich tun möchte. So - und nun gönne ich mir a Glasel Wein vom guten alten Jahrgang.

Text: Inge La Barré, Foto: Stephan la Barré

Zuerst erschienen in der LiesSte, Zeitung für den Stephankiez, Nr. 20, November 2011

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