Calvinstraße 21 - die letzten Mohikaner?

Kurz vor Weihnachten  hatte der Berliner Mieterverein und die verbliebenen sechs Mietparteien der Calvinstraße 21 zum Pressegespräch eingeladen. Bereits am 1. September waren die Mieter mit einer Demonstration an die Öffentlichkeit gegangen. Über die Demo und ihren Hintergrund - die langjährigen Baumaßnahmen und Modernisierungen in der Melanchthon- und Calvinstraße - hat MoabitOnline damals ausführlich berichtet. Der aktuelle Anlass sind fristlose Kündigunen vor den Weihnachtstagen. "Mietervertreibung in Tiergarten" titelte die Abendschau vom 22. Dezember und "Zu Weihnachten die Kündigung" das Neue Deutschland einen Tag später.

Das Vorgehen des Vermieters hat Methode. Nach und nach wurden Häuser in der Melanchthon- und Calvinstraße von Günther Stach und Nicola Schneider-Neudeck, zuerst als Team 2 GmbH,  später von der Terrial GmbH aufgekauft, entmietet, luxusmodernisiert und damit die systematische Aufwertung dieses Quartiers eingeleitet.  2009 bereits erklärte Stach in der Berliner Zeitung, wie gut verkäuflich die Lage in Spree- und Tiergartennähe sei. Er spricht von den hohen Preisen und der gut situierten Klientel, für die seine Wohnungen gedacht sind, schließlich ist auf der Ecke ein Neubau entstanden. Stach ist schon lange kein Unbekannter mehr und auch an anderer Stelle in Mitte nicht gerade positiv aufgefallen: 2001 berichtete das MieterMagazin, das MieterEcho Nr. 288 beschrieb einen abgebrochenen Räumungsversuch der Brunnenstraße 183, der Scheinschlag 2006 die Situation in diesem Haus und wieder das MieterEcho über eine aufgehobene und mithin doch nicht stattgefundene (vgl. Gegendarstellung) Zwangsversteigerung. Nun wollen wir aber nach Moabit in die Calvinstraße zurückkommen.

Drei Mietparteien haben ihre persönliche Situation geschildert (weiter unten). Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, erklärte hier werde ohne Rücksicht auf die Mieter luxussaniert, es wird systematisch Angst verbreitet, zum Beispiel mit den jetzt ausgesprochenen fristlosen Kündigungen wegen angeblichen Mietrückständen. Die sind jedoch nur deshalb entstanden, weil die Mieter völlig zu Recht wegen Baulärm, Staub und anderem die Miete gemindert haben.  Er erläutert die Modernisierungs-ankündigung, die die Mieter etwa zwei Monate vor der Kündigung erhalten hatten. "Eine Mieterhöhung wegen Moderniesierung um 4,97 Euro pro Quadratmeter ist mir bisher noch nie begegnet. Das ist extrem." erklärt Wild. Und er erläutert genau, wie sich diese 4,97 Euro Mieterhöhung zusammensetzen: 1,34 Euro für die Erneuerung des Aufzugs, für neue Fußböden mit Trittschalldämmung und Fußbodenheizung sowie einem neu gestalteten Eingangsbereich. Insgesamt 3,63 Euro pro Quadratmeter wird die Miete erhöht wegen energetischer Sanierung, einer neuen Heizung und neuer Fenster. Überhaupt die Fenster, sie sind undicht und das schon lange. Das wundert eigentlich nicht bei einem Haus aus dem Nachkriegs-Wohnungsbauprogramm. Seit Jahren klagen die Czaparas, die ihre Wohnung für das Pressegespräch zur Verfügung gestellt haben, damit der Vermieter die maroden Fenster instandgesetzt. Sie haben einen Gerichtsbeschluss erwirkt. Doch der Vermieter macht es trotzdem einfach nicht. Rechtsanwalt Christoph Müller hat die Akten mitgebracht und zeigt, wieviel Energie dieses eigentlich kleine Problem auffrisst.

Reiner Wild kritisiert das Bezirksamt Mitte. In dieser Gegend hätte es seiner Meinung nach schon längst eine Umstrukturierungssatzung erlassen müssen, um die Menschen, die dort wohnen wirksam zu schützen. Mit einer Veränderungssperre könnte einer Herausmodernisierung von Mietern entgegengewirkt werden. Denn das Mietrecht reiche für solche Fälle nicht aus. 11% der Baukosten können bei Modernisierung jährlich auf die Miete umgelegt werden. Und das dauerhaft. Deshalb fordert der Berliner Mietervereins diese Umlage aus dem Gesetz zu streichen. Aber das ist ein Thema für die Bundesgesetzgebung. Eine Umstrukturierungssatzung könnte der Bezirk Mitte aufstellen. Doch von dem fühlen sich die Mieter nicht unterstützt. So soll eine Mitarbeiterin des Bau- und Wohnungsaufsichtsamtes gesagt haben, der Vermieter könne mit Ihnen machen, was er wolle.

Kommen wir zu den Einzelfällen:

Helga Brandenburger ist 63 Jahre alt und Rentnerin. Sie wohnt in einer "Rundumwohnung": das Wohnzimmer mit Balkon geht zur Calvinstraße raus, Küche und Bad zum früher freien Eckgrundstück, das Schlafzimmer nach hinten zum Hof. 2009 wurde ihr mitgeteilt, dass vor Küchen- und Badfenster die Wand des Eckhauses hochgezogen wird. Und eines Tages war es plötzlich so weit: "Ich war den Vormittag im Virchow-Klinikum wegen meiner Herzkrankheit. Und als ich nach Hause komme, ist es dunkel in der Küche. Es war im April 2010, eigentlich hätte es Licht geben müssen. Sie haben mir tatsächlich die Fenster zugemauert, von außen ist die Betonwand davor. Am Abend stand Herr Stach vor meiner Tür und sagte: 'Sehen Sie so schnell kann das gehen! Wo sollen wir die Entlüftung legen? Durchs Wohnzimmer?' 'Nein, das geht nicht, da steht ja die Schrankwand.' Sie wollten von der Küche, durch Bad und Schlafzimmer eine Entlüftung zum Fenster legen. Da habe ich gesagt, dass ich mich beraten lassen will, und gleich am selben Abend einen Brief an den Mieterverein geschrieben. Bis jetzt ist da noch nichts geändert. Ist doch klar, dass ich die Miete mindere." Brandenburger wohnt seit 2002 in dieser Wohnung. Sie hat den Mietvertrag ihrer Eltern übernommen, die sie dort gepflegt hat. Die Mutter ist 1999 gestorben, der Vater 2002. "Hier sind meine Wurzeln, ich will nicht wegziehen. Ich bin in der Stephanstraße geboren, Hausgeburt. Später sind wir in die Lüneburger Straße gezogen." 1974 konnten die Eltern mit dem schwerbehinderten Bruder in diese Wohnung einziehen, endlich keine Ofenheizung mehr. Vor Jahren wollte ein früherer Eigentümer die Ecke bebauen, er hat jedoch keine Genehmigung bekommen, wegen schwierigem Baugrund. Seitdem die Bauarbeiten begonnen haben, gibt es keine Ruhe mehr. Von morgens bis abend läuft der Betonmischer. Zuerst wollte Helga Brandenburger wegziehen, doch dann hat sie sich gesagt: "So viel Frechheit werde ich mir nicht gefallen lassen." Sie will standhaft bleiben. Nach und nach sind einige Mieter ausgezogen, einige haben auch eine Entschädigung angenommen: "Da pfeiff ich drauf!" Und sie lässt sich auch nicht einschüchtern, wenn Stach sie auf der Straße anspricht und um ein persönliches Gespräch bittet. "Sie können mit allen Mietern zusammen sprechen, nicht mit mir alleine." Es ist eine starke Mietergemeinschaft entstanden, deshalb traut sie sich das. Ihre Rente beträgt 905 Euro. Nach der angekündigten Modernisierung soll sie 897 Euro Miete bezahlen. "Ein bisschen habe ich ja gespart. Aber wenn die damit durchkommen, muss ich wegziehen."

Eva Bugenhagen ist ebenfalls Rentnerin, 69 Jahre alt. Sie lebt schon  seit 50 Jahren im Haus. 1961 ist sie zusammen mit ihrer Mutter als 17jähriges Mädchen in die Wohnung eingezogen. Sie sagt: "Ich mag kein Aufsehen und stehe nicht gerne im Mittelpunkt. Aber jetzt müssen wir alle zusammenhalten. Ich tue es für die Gemeinschaft. Nur gemeinsam sind wir stark."  Ihre Wohnung ist tip top in Schuss, alles hat sie selbst machen lassen, Kabel verlegen um die Bilder zu beleuchten, Schwedentapete an den Wänden, eine Schiebetür aus Fliegengitter am Balkon. Bugenhagen schätzt, dass sie in der ganzen Zeit etwa 50.000 bis 60.000 Euro in die Wohnung investiert hat. Die Modernisierung braucht sie nicht. Im Gegenteil. "Meine Kammer soll kleiner werden, weil der Aufzug größer werden soll.  Aber dann passen meine Einbauschränke und -schubladen nicht mehr." Am 19. Dezember hat sie ein Schreiben erhalten, das von ihr fordert bis zum 23. Dezember mitzuteilen, ob sie die Umsetzwohnung akzeptiert. "Welche Umsetzwohnung? Mir wurde noch keine angeboten." Das Haus steht ständig offen, die Bauarbeiter gehen ein und aus. Die Nottreppe, die angebaut wurde, ist im Winter glatt und rutschig.

Hanna und Roman Czapara sind 1988 in die Calvinstraße 21 eingezogen. Ihr Sohn Michi, mittlerweile Dozent an der Universität Frankfurt/ Oder, ist als Kind in die Kita gegangen, auf die sie vom Balkon aus schauen können. Dort hängt jetzt das große Transparent. Sie haben die Miete gemindert, wegen der undichten Fenster, um 20 %. Der Vermieter will nur 5 % akzeptieren. Die Modernisierungsankündigung nach der die Miete sich verdoppeln soll, kam am 31. Oktober. Zwei Monate später der Brief, dass sie ihre Wohnung zum 31. Jahnuar 2012 verlassen sollen. "Es ist unglaublich," sagt Roman Czapara, "früher sind wir hier im Haus aneinander vorbeigegangen, haben gegrüßt, sonst nichts. Und jetzt, sind wir eine richtige Gemeinschaft geworden." Sie wollen im Haus wohnen bleiben zu bezahlbaren Mieten. Luxusmodernisierung mit Fußbodenheizung brauchen sie nicht.

Das Nachbarhaus, die Calvinstraße 20 und 20 a ist fast fertig saniert. Man kann nicht mehr erkennen, wann es gebaut wurde, denn es sieht fast genau so aus, wie der Neubau an der Ecke. Die Mieter dieses Hauses hatten genau mitbekommen wie die Melanchthonstraße 17-18 saniert und um zwei Stockwerke aufgestockt worden war. Nach der Modernisierungsankündigung hatten die Mieter das Haus fluchtartig verlassen. So hatte die Terrial GmbH freie Bahn für Kernsanierung und Aufstockung, berichten die "letzten Mohikaner" aus dem Nebenhaus. Drücken wir ihnen die Daumen für die anstehenden Rechtsstreitigkeiten, damit Mietervertreibung in Moabit nicht zum Erfolg führt.

Nachtrag

:
Schon am 22.12.11 hat der Berliner Kurier berichtet, am 23.12.das Neue Deutschland. Hier die Pressemitteilung des Berliner Mietervereins.
Mietervertreibung als Strategie zur Inwertsetzung der Immobilie, unter diesem Aspekt hat Andrej Holm unseren Bericht in seinem Blog aufgegriffen: "Die Renditestreber von Moabit".

Die Berliner Woche berichtete am 11.1.2012 mit einem Foto des zugemauerten Badezimmerfensters.

Am 31.1.2012 erhielt die Redaktion folgende Gegendarstellung des alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführers der Team 2 Gesellschaft zur Verwaltung eigenen Grundbesitzes mbH. Der ursprüngliche Text wurde entsprechend geändert.

Lesen Sie auch den Artikel im Tagesspiegel "Gegen die Wand" von Deike Diening, mit Informationen zur Umgebung sowie einer Fotostrecke mit 14 Bildern von der Lebenssituation im Haus. Dieser Artikel war 2013 für den Theodor-Wolff-Preis nominiert.

Artikel im MieterMagazin, Januar/Februar 2012: "Mauer vorm Kopf" und April 2012: "Calvinstraße 21: Etappensieg für Mieter"

Bericht im Berliner Kurrier vom 11.4.2012 über die Räumungsklage wegen 2 Cent. Und ein Bericht bei RTL.

Neuer Bericht bei MoabitOnline "Fahrstuhl weg, Keller zu!" mit Film bei Spiegel TV.

Bericht im ZDF "Erst Schikane, dann doppelte Miete"

Der Abendschaubericht vom 24.7.12 "Streit um teure Wohnungssanierung" (ist unter dem neuen Artikel eingebunden) berichtet vom Urteil des Amtsgerichts. Die Pressemitteilung des Gerichts ist als Kommentar Nr. 4 beim aktuellen Artikel zu finden, hier das anonymisierte Urteil (pdf). Es wird getwittert, dass der Investor die Anwälte nach diesem Misserfolg gewechselt habe. Auch die ecke turmstraße Nr. 6, September 2012 berichtet auf Seite 6 "Die Mauer muss weg" über dieses Urteil.

Weitere Aktualisierungen beim neuen Artikel.

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