Bürgerbeteiligung in Geiselhaft?

Eine Abrechnung

Gewiss, es macht keinen feinen Eindruck, daß der Senat ein Bebauungsplanverfahren an sich zieht, um damit einem Bürgerbegehren zuvorzukommen. Ist das jetzt aber ein Todesstoß für die Demokratie? Ich meine nein, ganz im Gegenteil. Ich habe es schon in meinen Artikel „Bürgerbeteiligung vor dem selbstverschuldeten Aus?“ dargestellt, dass das an sich gute Instrument der Bürgerbeteiligung mittlerweile immer öfter dazu missbraucht wird, um zu versuchen, Partikularinteressen durchzusetzen. Im Falle des Mauerparks war jahrelang um einen Kompromiss gerungen worden, der ein heute privates, ehemaliges Bahngrundstück betraf. Gegen Baurecht sollte eine Teilfläche der Öffentlichkeit als Park zur Verfügung gestellt werden. Und was passiert nun? „100% Mauerpark“ heißt es auf einmal. Woher soll eigentlich das Geld kommen, mit dem dem Eigentümer das Grundstück abgekauft werden kann? Wie viele Schulen sollen deshalb unsaniert bleiben (um einen der im Forum häufigen Einwürfe aufzunehmen)?

Politiker_IMGP5416-250

Bezüglich des Wohnungsbaues sieht es anderenorts in Berlin ähnlich aus. Auch dort hat der Senat die Verfahren an sich gezogen, um zu verhindern, dass eine kleine Zahl von Anwohnern ihre Partikularinteressen unter dem Vorwand des Naturschutzes durchsetzen kann. Wie fadenscheinig diese Argumentation ist, kann man gerade im südlichen Berlin sehen, wo direkt angrenzend an die angeblich vor Naturzerstörung zu schützenden Flächen Landschaft pur liegt – auf dem Territorium von Brandenburg. Ich finde, der Senat hat dies völlig zu recht getan, denn wir haben nun einmal Wohnungsnot und es ziehen mittlerweile so viele Betuchte nach Berlin, die – ob sie es wollen oder überhaupt merken, sei dahingestellt – die Menschen mit geringerem Einkommen verdrängen. Hier muss das Gesamtinteresse klar über dem Einzelinteresse stehen! Eine Millionenstadt muss auch als solche gedacht werden und nicht als riesenhafte Ansammlung gallischer Dörfer.

In Bezug auf die Jugendverkehrsschule (JVS) sieht es ähnlich aus: Obwohl der Baunutzungsplan von 1961 nur eine aufgelockerte Bebauung zuläßt (sie atmet ja noch zum Teil den Geist des Kampfes gegen das „Steinerne Berlin“), wird sie als angeblich „überholtes Baurecht“ dargestellt – dabei lassen die heute üblicherweise aufgestellten Bebauungspläne eine weitaus höhere Verdichtung zu! Da wird gar das Preußische Fluchliniengesetz von 1875 als angeblicher Beweis für die Rückständigkeit des Bezirksamtes angeführt, obwohl dieses Gesetz lediglich die Anlage von Straßen regelt, die Bebauung der Grundstücke ist gar nicht Gegenstand des Gesetzes. Das weiß natürlich nur derjenige, der die Möglichkeit hatte, das Gesetz auch zu lesen. Und damit wird die Sache richtig gefährlich: Denn es werden Dinge behauptet, die der nicht baurechtlich bzw. baugeschichtlich bewanderte Bürger in vielen Fällen gar nicht so einfach überprüfen kann. Er soll aber – natürlich im Sinne der BI – darüber abstimmen. Man kann das nur als Demagogie bezeichnen, es passiert nun von Bürgerseite das, was früher dem Staat vorgeworfen worden ist.

In die gleiche Richtung läuft die fadenscheinige Argumentation, der Bezirk würde einen neuen Flächennutzungsplan nicht beachten, der „Grün“ vorschreibt. Daß diese Festlegung zu Zeiten eines geringen Verdrängungsdruckes geschaffen worden ist, wird verschwiegen. Dabei wird aber auch verschwiegen, daß der Baunutzungsplan von 1961 den Status eines förmlich festgesetzten Bebauungsplanes hat. Erst, wenn der Bezirk einen neuen Bebauungsplan aufstellen würde, müsste er sich an später aufgestellte Flächennutzungspläne halten. Und das ist völlig in Ordnung, denn in Fällen, in denen z. B. ein Bürger ein Grundstück kauft, für das Baurecht besteht, muss der Bürger Rechtssicherheit haben. Will man aus politischen Gründen die Nutzungsart ändern, so müsste der Staat dem Bürger Schadenersatz leisten. Die Gültigkeit und Rechtssicherheit eines solchen festgesetzten Planes ist also auch ein Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür. Bei der JVS handelt es sich zwar um ein staatliches Grundstück, aber wenn Baurecht besteht, so sollten denn auch die dringend benötigten Wohnungen gebaut werden, denn auf private Flächen hat der Staat nicht den Einfluss, den er auf seinem eigenen Grund und Boden ausüben kann. Wie und vor allem mit welchen Miethöhen der geplante Wohnungsbau umgesetzt wird, das muss diskutiert werden. Diejenigen, die sich so vehement für den Erhalt einer untergenutzten und desolaten Kinderverkehrsdomestikationseinrichtung im Stile der sechziger Jahre einsetzen, sollten sich – und das wäre sehr viel sozialer! – klar für auch von Geringverdienern bezahlbaren Wohnraum einsetzen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es ausgerechnet ein Zugezogener war, der gesagt hat, daß Zuzügler gefälligst nach Brandenburg ziehen sollen. Warum ist er dann in den Moloch Berlin gezogen und nicht in seinem Dorf geblieben? Was ist für ihn so anziehend an Berlin, was er anderen verwehren bzw. nur mit langen Anfahrtswegen zubilligen will? In diesem Zusammenhang frage ich mich auch, warum trotz der vorhandenen Sachkompetenz (Architekt) eigentlich keine Kompromissvorschläge gemacht werden, um sowohl den dringend benötigten Wohnraum zu schaffen, aber dennoch Teile der Einrichtung erhalten zu können? Offensichtlich wird auch hier der gesamte Grips nur in eine hundertprozentige, destruktive Verweigerungshaltung gesteckt, anstatt mit durchdachten und konstruktiven Vorschlägen einer angeblich einfallslosen Verwaltung Paroli zu bieten.

Ebenso zeigt es sich bei dem Dauerbrenner Thusneldaallee. Ohne die schon bekannte Diskussion wiederholen zu wollen, zeigt sich doch auch hier, daß eine 3,5-Millionen-Stadt aus der Froschperspektive eines ökologisch korrekten Vorgärtchens gedacht werden soll. Die Interessen derer, die den ökologischen ÖPNV nutzen, aber in Moabit umsteigen müssen, werden missachtet (Zitat: „Die sollen laufen“). Aber ebenso werden die Interessen der Anwohner der im AZ-Gebiet liegenden Gotzkowskystraße mißachtet, wenn behauptet wird, daß die baustellenbedingte Umleitung im Sommer 2014 doch gezeigt hätte, dass es machbar wäre. Es passt wie der Punkt auf das i, wenn gewählte, aber auch angemaßte Stadtteilvertreter sich dann nur noch für Fahrradbügel in der Gotzkowskystraße interessieren – damit sie, wenn sie dort hinfahren, auch ihren Drahtesel anschließen können. Dieselruß und Lärm – ansonsten die Argumente schlechthin - scheinen in einer Straße, in der nicht wenige Migranten wohnen, wohl nicht der Rede wert zu sein.

Ähnlich sieht es beim Thema „Schultheiss-Quartier“ aus: Da werden einerseits nur die Quadratmeterzahlen als Kriterium dargestellt und andererseits immer wieder der Untergang der Turmstraße heraufbeschworen. Welche, für Einkaufscenter typischen, Geschäfte sind denn auf der Turmstraße durch die Konkurrenz eines Centers betroffen? So gut wie keine, die in dieser Richtung nachfragende, und durchaus in Moabit vorhandene Kaufkraft wendet sich anderen Orten zu. Anstatt hier sich den Branchenmix anzusehen und mit durchdachten und konstruktiven Beiträgen Einfluss nehmen zu versuchen, wird auch hier rundheraus und lautstark abgelehnt. Dabei zeigt sich, dass diejenigen, die protestieren, mit ihrem Protest den Ungefragten auch ihre Lebensweise aufoktroyieren wollen, denn was sie nicht brauchen/kaufen wollen, sollen auch die anderen nicht brauchen/kaufen dürfen. Und es werden billige Schlagworte in den Raum geworfen, wie z.B. „Kulturzentrum“, ohne diesen Schlagworten auch nur einen Atemzug Leben einzuhauchen. Wer soll der Träger sein, was soll das Kulturzentrum enthalten, wie soll es finanziert werden? Dabei darf eines nicht vergessen werden: Ob Einkaufscenter oder Kulturzentrum, eine denkmalgeschützte und für einen völlig anderen Zweck errichtete Immobilie hat einen höheren Finanzbedarf zum Erhalt und zur vorschriftgemäßen Herrichtung und Nutzung als eine normierte Fertigteilhalle. Diese Investitionen müssen in beiden Fällen wieder eingespielt werden.

Da wundert es einen auch gar nicht mehr, wenn es rund um die Stadtteilvertretung Leute gibt, die zwar nicht gewählt worden sind, sich aber dennoch als Sprecher bezeichnen: Sprecher einzelner Arbeitsgruppen. Es wundert einen auch nicht mehr, dass aus den Reihen der Stadtteilvertretung die angebliche Einzelmeinung kommt,. die Stadtteilvertretung länger im Amt zu belassen, als es ihr eigentlich zusteht. Das sind im Prinzip die selben miesen Tricks, die sonst immer dem Staat und den Parteien vorgeworfen worden sind. Und zum Thema Einzelmeinung passt auch der Vorschlag, eine unbeliebte Gewerbehalle, wenn schon nicht verschoben auf den Stadtgarten, so doch auf dem Gelände des Tempelhofer Feldes zu errichten. Besser kann man das St.-Florians-Prinzip dieser Leute gar nicht mehr darstellen, denn war da bezüglich des Feldes nicht etwas gewesen?

Zum Thema Verkehr fällt mir da noch der Tunnel in Lichtenrade ein: Zu Mauerzeiten haben sich dort etliche in deren Schatten ein sehr ruhiges Plätzchen geschaffen. Wie viel davon eine Kerze ins Fenster gestellt haben im Gedenken an die „Brüder und Schwestern in der Sowjetzone“, ist mir nicht bekannt. Jetzt aber, nach dem Fall der Mauer, soll die Wiedervereinigung bitteschön woanders stattfinden, aber „nicht vor meiner Haustür“. Oder der Staat soll denen mit viel Steuergeld einen Tunnel bauen – es wäre der einzige im Zuge einer der schon seit mehr als 150 Jahren bestehenden, auf Berlin zulaufenden, Eisenbahnstrecken. Auch hier die Frage: Wie viele Schulen könnte man für eine solche Bevorzugung einer kleinen, aber wohlhabenden Gruppe, sanieren? Dabei sei noch kurz an die frischgebackenen Eigentümer von Wohnungen in ehemaligen, zu Wohnzwecken umgebauten Krankenhausgebäuden erinnert, die nichts Eiligeres zu tun hatten, als gegen den dort schon lange vorher stationierten Rettungshubschrauber zu Felde zu ziehen.

Letztendlich führt dies zu kuriosen Auswirkungen: Bei Planfeststellungsverfahren zum Beispiel – so wie jetzt anläßlich der Straßenbahnverlängerung – müssen die unsinnigsten Varianten erdacht, geprüft und dann als undurchführbar begründet verworfen werden, damit nicht diejenigen, denen das alles nicht passt, ihren Richter finden, der ihnen bescheinigt, dass der Staat einen Formfehler begangen hat, weil er die Variante X nicht abgewogen hätte, und der deshalb das Verfahren aussetzen läßt, weil er nun einmal Jurist und kein Bauingenieur ist. Vorläufig gewonnen hätten dann – wie immer häufiger – diejenigen, die die Entscheidungen, die demokratisch getroffen worden sind, kippen wollen zugunsten ihrer Einzelmeinung, ihrer Einzelinteressen. Damit verkehrt sich dann Bürgerbeteiligung in ihr Gegenteil, zu einem antidemokratischen Verhinderungsinstrument.

Bei den wirklich vorbildlichen (sowohl von Seiten des Bezirksamts als auch von Seiten des Planungsbüros) Workshops zum Kleinen Tiergarten ist mir aber auch noch etwas anderes aufgefallen: Die wie abgesprochen wirkenden Referate, Co-Referate und Co-Referate zu den Co-Referaten, mit denen die lautstarke Gruppe der Baumschützer die Zeit ausfüllen konnte, so dass andere Bürger schon fast keine Möglichkeit mehr hatten, auch nur einen Ton zu sagen – ähnliches habe ich vor 25 Jahren auf Veranstaltungen der SEW erlebt. Da fällt mir nur noch Walter Ulbricht ein: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“. Das ist nichts anderes als ein Mittel, um eine Scheinmehrheit darzustellen, die mit den wirklichen Mehrheitsverhältnissen nicht zu tun hat. Die Wirklichkeit im Park bestätigt dies eindeutig: Die Moabiter stimmen mit den Füßen gegen ihre angemaßten Vertreter ab, sie nutzen den Park stärker denn je. Da verwundert es auch nicht, dass erst hoffnungsvoll der Petitionsausschuß angerufen, anschließend aber niedergemacht wurde, weil er nicht so entschieden hatte, wie es die kleine Minderheit erwünscht hatte. Demokratie hat auch etwas mit Akzeptanz von Entscheidungen demokratisch verfasster Gremien zu tun!

Warum sitzt Karl Marx, warum steht Friedrich Engels? Antwort: Erst haben sie beide gestanden, als aber der Engels dem Marx die Ökonomie der DDR erläutert hatte, musste sich Marx erst einmal setzen.
Warum sitzt Karl Marx, warum steht Friedrich Engels?Antwort: Erst haben sie beide gestanden, als aber der Engels dem Marx die Ökonomie der DDR erläutert hatte, musste sich Marx erst einmal setzen.

Letztendlich ist das kompromisslose und egoistische Herangehen so mancher heutiger BI also kein Zugewinn an Demokratie, sondern deren schleichender Ersatz durch eine – im Wortsinne – Oligarchie, also eine Herrschaft einer kleinen Zahl von Leuten, die gut ausgebildet und mit viel Zeit versehen sind, sich anmaßen, für alle anderen sprechen zu dürfen – ohne sie alle gefragt zu haben. Der Unterschied zu der für Lobbyismus und „Investitionen in die Zukunft“ (wenn die gerichtsnotorisch werden, heißen die natürlich anders) anfälligen parlamentarischen Demokratie wird dann immer geringer. Es ist zu befürchten, daß diejenigen, die weder von ihren Kenntnissen noch von ihren zeitlichen Möglichkeiten (Arbeit) dazu in der Lage sind, an Bürgerbeteiligungen teilzunehmen, mit ihren Interessen nicht mehr berücksichtigt oder gar, wie im Falle der Verhinderung der Schaffung bezahlbaren Wohnraumes, sogar indirekt bekämpft werden.

Wenn man wie ich einerseits fünfundzwanzig Jahre lang Bürgerbeteiligung mitgemacht und auch immer wieder Einwendungen geschrieben, Erörterungsveranstaltungen besucht und mit vielen Leuten diskutiert und sich dabei immer um Sachlichkeit und nachvollziehbare Argumente bemüht hat, andererseits aber einen zunehmenden Lokalegoismus feststellen muss, dann wundert einen die harte Reaktion eines Senators nicht mehr. Mir kommt dabei immer wieder Wolfgang Leonhardts Buch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ in den Sinn – warum wohl? Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wenn die gesellschaftliche Verantwortung immer weniger bis gar nicht mehr zu erkennen ist und sich die eigenen Vorgarteninteressen auch für Außenstehende sichtbar in den Vordergrund schieben, wenn also der alte Spruch „Denke global – handle lokal“ in sein Gegenteil verkehrt wird, dann sollte man anfangen, die Verfahren der Bürgerbeteiligung neu zu denken, um den beschrieben Lokalegoismus weitestgehend auszuschalten. Bürgerbeteiligung: Ja – Unterordnung demokratisch gefällter Entscheidungen unter die Partikularinteressen einer kleinen lautstarken Minderheit: NEIN!

Text und Fotos: Andreas Szagun

Nachtrag:
Die BI KTO hat der Redaktion von MoabitOnline am 8. Mai 2015 diese Erklärung zum obigen Artikel zugeschickt, mit der Bitte sie hier im Nachtrag zu verlinken.

Read more

"Mut und Widerstand" - Projektjahr zum 80. Todestag von Dietrich Bonhoeffer

Das vergangene Jahr 2024 wurde anlässlich des 100. Geburtstags von Selma Meerbaum-Eisinger mit vielen ganz unterschiedlichen Veranstaltungen zum Meerbaum-Jahr.  2025 schaut die evangelische Kirchengemeinde Tiergarten mit der Veranstaltungsreihe "Mut und Widerstand", was es heute heißen kann, gegenüber Rechtsextremismus und Antisemitismus Zivilcourage zu zeigen. Vorbild ist der Theologe Dietrich

By Susanne Torka