Berlichingenstraße 12 - Bewohner zur Räumung verurteilt

Am 4. Juli 2017 hat ein Richter am Landgericht Berlin im jetzt bereits eineinhalb Jahre schwelenden Streit um die wohnungslosen Männer aus der Berlichingenstraße 12 das Urteil verkündet:

Der frühere Betreiber, das "Gästehaus Moabit", wurde verurteilt, das Haus geräumt an die Eigentümergemeinschaft  zu übergeben. Die 19 Bewohner wurden verurteilt, das jeweils von ihnen bewohnte Zimmer, das mit Etage und Zimmernummer bezeichnet wurde, sowie anteilige Gemeinschaftsflächen geräumt zu übergeben. Es können noch Rechtsmittel eingelegt werden. Die Urteilsbegründung kann erst durch die Pressestelle der Gerichte veröffentlicht werden, wenn sie den Beteiligten zugegangen ist, frühestens am 10. Juli.

Was bisher geschah - kurze Zusammenfassung
Zum 31. Januar 2016 kündigte das "Gästehaus Moabit" die dort untergebrachten 33 wohnungslosen Männer, die teilweise schon viele Jahre dort wohnen. Viele sind zuvor aus ihren Wohnungen zwangsgeräumt worden, ohne dass das Hilfesystem es verhinderte. Der Betreiber der Wohnungslosenunterkunft war selbst von den Hauseigentümern Korenzecher, Bialek und Koralinski beziehungsweise deren Hausverwaltung Berolina Grundbesitz GmbH gekündigt worden. Sie hatten das Haus angeblich zu einem fast dreimal höheren Preis ab März 2016 an die Gikon vermietet. Im Januar 2016 vermietete die Gikon laut Berliner Morgenpost Unterkünfte an 100 Geflüchtete verteilt auf sieben Standorte in Mitte. Laut eigener Webseite betreibt die Gikon zur zeit Wohnheime in der Lehrter, der Innungs-, der Gottschedstraße und in Alt-Moabit. So kam der Verdacht auf, dass hier die Not von Flüchtlingen gegen die von Obdachlosen ausgespielt werden sollte. Das Haus ist in einem erbärmlichen Zustand. Nach und nach realisierte anscheinend der neue Betreiber, dass hier sehr viel investiert werden müsste. Stephan von Dassel, damals noch Sozialstadtrat, setzte sich für den Verbleib der Wohnungslosen ein, doch während des gesamten ersten Jahres wurde dem Bezirksamt kein Konto für die Überweisung der Unterbringungskosten genannt. Ein neuer sozialer Träger wurde gesucht, der das Haus mit den Bewohnern weiter betreiben könnte. Doch kamen ernsthafte Verhandlungen mit Eigentümern oder Verwaltung nicht zu stande.

Zu Beginn der Auseinandersetzungen konnten einige Bewohner in andere Unterkünfte vermittelt werden oder fanden selbst neue Wohnungen. Doch die meisten blieben mit Unterstützung vom Bündnis Zwangsräumung verhindern und aktiven Moabiterinnen und Moabitern in ihren Einzelzimmern wohnen und organisierten sich selbst, so gut das ging. Mit verschiedenen Aktionen und offenen Briefen wurde um Unterstützung geworben und versucht die Berolina zum Einlenken zu bewegen. Im Sommer 2016 wurden Räumungsklagen angedroht und schließlich Ende Juni das Wasser abgestellt. Im September wurden die Räumungsklagen zugestellt, im Dezember war das Haus wochenlang ohne Heizung, weil die Gasleitung getrennt und der Zähler abgebaut wurde. Die gespendete Reparatur wollte die Hausverwaltung verhindern (Einzelheiten können hier nachgelesen werden). Stephan von Dassel zahlte lange Zeit die Betriebskosten aus seiner eigenen Tasche. Dennoch wurde die Situation im Haus immer desolater.

Wie weiter?
Der erste Gerichtstermin fand im Januar 2017 statt. Die Rechtslage ist kompliziert. Es geht u.a. darum, ob ein eigenständiges Mietverhältnis der Bewohner besteht. Auch am 13. Juni hatte der Richter noch keine Entscheidung getroffen (Die Einzelheiten ab Dezember 2016 können hier nachgelesen werden). Gestern dann das Urteil: RÄUMUNG! Drei Tage vorher wurde bekannt, dass der Regierende Michael Müller eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Bezirksbürgermeister eingeleitet hat, wegen dessen Unterstützung der wohnungslosen Männer und Verstoß gegen das Haushaltsrecht, obwohl alles aus privater Tasche gezahlt wurde. Auch wenn es schon früher Auseinandersetzungen über das Vorgehen in der BVV gab, es ist ein unglaublicher Affront auf politischer Ebene.

Denn eigentlich sind Bezirk und Senat dringend gefragt, geeignete Maßnahmen zur menschenwürdigen Unterbringung von Obdachlosen zu unternehmen. Ein Bett in einer Notunterkunft ist keine Alternative. Wo gibt es Wohnungen oder Zimmer für die Wohnungslosen?  Es gibt Möglichkeiten Obdachlosigkeit zu verhindern. Einen recht umfassenden Katalog von Maßnahmen hat die Bezirksverordnetenversammlung Mitte erst kürzlich beschlossen. Allerdings steht unter dem Beschluss: Erledigungsfrist bis 22. September 2017. So lange können die Männer nicht warten. Es gibt die Möglichkeit Wohnraum zu beschlagnahmen und nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) die Wiedereinsetzung zu betreiben.

Nachtrag:
Das Gericht hat in seiner Begründung des Urteils erklärt, dass keine Mietverhältnisse zwischen dem "Gästehaus Moabit" bestanden hätten, da die Wohnungslosen dort mit Tagessätzen des Bezirksamts untergebracht gewesen seien ohne eine bestimmte Wohndauer. Es hätte sich zudem um ein "Beherbergungsgewerbe" und nicht um "Wohnen" gehandelt, was ausführlich begründet wurde, mit angeblich sehr kleinen Zimmern, kleinen Küchen und GemeinschaftsWC und -duschen, die nicht dazu geeignet gewesen wären, eine selbstständige Haushaltsführung zu erlauben. Dem würde auch nicht entgegen stehen, dass einige Bewohner über viele Jahre dort "beherbergt" wurden. Auch einen Vergleich mit Studentenwohnheimen verneint das Gericht, denn dort wären großzügigere Küchen und zusätzliche Gemeinschaftsräume die Regel. Deshalb habe auch kein Mietverhältnis (nach § 565 BGB)auf den Eigentümer über gehen können. Jeder einzelne namentlich genannte Bewohner wird verurteilt sein mit Etage und Zimmernummer bezeichnetes Zimmer zu räumen sowie die anteiligen Gemeinschaftsflächen. Dem Antrag der Eigentümer, jeden Einzelnen zur Räumung des gesamten Hauses zu verurteilen, wurde nicht stattgegeben. Das wäre ja auch vollkommen unpraktikabel gewesen.

Das Urteil vom 4. Juli 2017 (geschwärzt) wurde von der Pressestelle der Gerichte zur Verfügung gestellt (Quelle: Landgericht Berlin).

Für die betroffenen Männer ist das Räumungsurteil, gegen das einige noch Rechtsmittel einlegen können, sehr bitter. Denn dieses Haus war eines der wenigen Häuser, in denen Wohnungslose ein eigenes Zimmer bewohnen konnten, eine Meldeadresse hatten oder einen Hund halten konnten.

Am 6. September 2017 wurden die fünf Bewohner geräumt. Einer war in der Woche vorher gestorben.

BVV-Anträge zu Obdachlosigkeit: Mindesstandards in ASOG-Unterkünften (Drs. 0590/V), aufsuchende Straßensozialarbeit (Drs. 0586/V), Unterbringung z.B. in Rathenower 16 (Drs. 0626/V), Räumung Berlichingenstraße 12 (Drs. 0649/V), Trägerwohnungen erhalten (Drs. 0703/V), Wegweiser (Drs. 0704/V)

Die Armut ist ein gutes Geschäft - das Beispiel Berlichingenstraße 12. Das Bündnis Zwangsräumung verhindern hat die Geschichte des Kampfs um das Wohnungslosenhaus zusammengefasst: "Es ist nicht nur so, dass die einen nur reich sein können weil die anderen arm sind. Mit den Armen lassen sich auch noch hervorragende Geschäfte machen. So zum Beispiel in der Berlichingenstraße 12, einem heruntergekommenem Haus in einer Randlage in Berlin-Moabit. Der Eigentümer Berolina Grundbesitz GmbH aus der Kantstraße 30 vermietete das Haus an die Firma Gästehaus Moabit als Heim für wohnungslose Männer, zugewiesen wurden diese vom Bezirk Mitte. Für die 33 Zimmer zahlte der Bezirk 22 Euro pro Nacht, im Monat also rund 22.000 Euro. Für Wohnungslose gibt es wesentlich schlechtere Optionen als die Berlichingenstraße 12. Andere Wohnugslose müssen in Mehrbettzimmern oder auf der Straße leben. In einer halbwegs vernünftig organisierten Gesellschaft gäbe es aber auch wesentlich bessere Optionen als 22.000 Euro im Monat den Profiteuren der Armut in den Rachen zu werfen – zum Beispiel das Haus zu kaufen. Aber die Politik will es den Wohnungslosen nicht zu leicht machen und wer Häuser für sie kauft, der enteignet auch irgendwann welche. Und wenn es keine Armen mehr gibt, wo sollen dann die Reichen herkommen?" .... bitte hier weiterlesen: http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/2017/09/14/die-armut-ist-ein-gutes-geschaeft-das-beispiel-berlichingenstrasse-12/ ... Fazit: "Ansatzweise organisierten sich die Bewohner. Aber dies war nicht von Dauer, dafür war der Druck der Eigentümer zu groß und die Aussicht auf Erfolg zu gering. Gegen Eigentümer, die knallhart bleiben, denen Öffentlichkeit egal ist und die jede Kommunikation verweigern, ist eben schwer anzukommen. Denn die wissen genau, dass in den kapitalistischen Verhältnissen, in denen wir leben, das Recht auf Wohnen von 33 Menschen nichts zählt, ihr Recht auf Eigentum aber alles. Und mit diesem Eigentum und der Armut, die diese Verhältnisse ebenfalls hervorbringen, lässt sich ein prima Geschäft machen. Dieses Geschäft wird von der Politik unterstützt, von der Justiz abgesegnet und von der Polizei durchgesetzt. Die Bewohner aber liessen sich nicht gegen Geflüchtete ausspielen und anderthalb Jahre konnten sie mit Hilfe der Unterstützer*innen den Eigentümern ihr Eigentum streitig machen. Mehr war nicht drin – dazu müssen wir die Verhältnisse schon grundlegend ändern!"

Nachtrag 2018:
Im Rahmen des Herbsts der Besetzungen wurde die Berlichingenstraße 12 am 6. Oktober besetzt um Wohnraum für Wohnungs- und Obdachlose zur Verfügung zu stellen. Am Abend wurde wieder geräumt. Vertreter*innen der Politik waren vor Ort und versuchten vergeblich als Vermittler*innen aufzutreten. Presse und Stellungnahmen siehe bei den Kommentaren ab Nr. 30.

Reinhard, der dort 15 Jahre gewohnt hat, fand die Besetzung „super“, selbst ein Polizist sagte: „Ist ja ne tolle Sache, aber gibt ja auch Eigentumsrechte ….“. Hier ein kurzes Video:

https://www.youtube.com/watch?time_continue=3&v=2kRyIWJSKe0

Beim Stadtteilplenum Moabit West im September 2019 hatte Meso-Reisen ihr Projekt für die Berlichingenstraße 12 vorgestellt, aber aus dem Kauf des Hauses für das Reisebüro mit sozialer Nutzung im EG wird nichts, weil die Eigentümer auf einem "utopischen" Kaufpreis bestehen. Sie haben das EG zugemauert.

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